Als am 23. November bei einer bundesweiten Razzia im Reichsbürgermilieu 20 Beschuldigte durchsucht werden, sind darunter neun aus Baden-Württemberg. Auch bei einer der größten Antiterror-Razzien der bundesrepublikanischen Geschichte im Dezember 2022 gegen die Verschwörungsgruppe um Prinz Reuß kommt ein erheblicher Teil der Festgenommenen aus dem Südwesten.

Am 22. März dieses Jahres schießt einer, der eigentlich nur als Zeuge vernommen werden sollte, einem Polizisten durch den Arm. Tatort: Reutlingen. Auch er wird inzwischen als Mitverschwörer der Reuß-Gruppe geführt. Mit dem Tübinger Matthes Haug kommt ein prominenter Reichsbürger früher Stunde aus Baden-Württemberg; Haug nannte sich bereits 2003 „vorläufiger Reichspräsident“, heute werden ihm Verbindungen zu dem genannten Netzwerk nachgesagt.

An der Freien Waldorfschule in Ravensburg zeigt ein Lehrer den Schülerinnen und Schülern seinen „Reichsausweis“. Und Johanna Findeisen aus Frickingen gilt in ihrer Heimat zwar als jemand, die sich für die Anliegen der Schwächsten einsetzt – doch auch sie soll sich aber an Plänen für einen Staatsstreich beteiligt haben.

Das Problem ist groß im wohlhabenden Südwesten

Wird in Deutschland über die verschiedenen Spielarten des Rechtsextremismus gesprochen, dann meistens im Kontext ostdeutscher Bundesländer. Die geschilderten Fälle und die Historie des Reichsbürgermilieus aber zeigen: Das Problem ist groß im wohlhabenden Südwesten. Warum ist das so?

Manchem scheint das rebellische Erbe Badens als Vorbild zu dienen, wenn der historische Vergleich auch hinkt: Der frühere baden-württembergische AfD-Landtagsabgeordnete Stefan Räpple bedauerte laut „taz“ auf dem Rückweg von einer Reichsbürger-Demonstration in Berlin in einem Video auf seiner Facebook-Seite, dass der Umsturz dieses Mal ausgeblieben sei: „Wir hätten es natürlich knallen lassen können. (…) Es ist ein bisschen schade, dass es jetzt heute so verpufft ist.“ Von Baden sei schließlich schon einmal eine Revolution ausgegangen.

Gemeint ist die demokratische Revolution von 1848, die ausgehend vom Großherzogtum Baden damals größere Teile des Deutschen Bundes erfasste.

Der belastete Alpenraum

Eine schlüssigere Erklärung hat Michael Blume, Religions- und Politikwissenschaftler und Beauftragter der baden-württembergischen Landesregierung gegen Antisemitismus. „Wir haben im Alpenraum, also in Baden-Württemberg, Bayern, Österreich und der Schweiz ein riesiges Gefälle gegenüber den norddeutschen Ländern oder etwa Dänemark“, sagt er.

Michael Blume, Politik- und Religionswissenschaftler, Autor von „Verschwörungsmythen. Woher sie kommen, was sie anrichten, wie wir ...
Michael Blume, Politik- und Religionswissenschaftler, Autor von „Verschwörungsmythen. Woher sie kommen, was sie anrichten, wie wir ihnen begegnen können.“ Außerdem Antisemitismusbeauftragter für Baden-Württemberg. | Bild: Hannes P Albert

In Gebirgsregionen seien die Menschen allein topografisch schon weiter von politischen Zentren entfernt. „Das spricht dafür, dass es dort auf der einen Seite mehr Föderalismus, mehr zivilgesellschaftliches Engagement gibt. Aber als Kehrseite leider auch eine Tendenz, dass Kritik an der sogenannten Obrigkeit in Verschwörungsmythen umkippen kann“, sagt Blume.

Zahlreiche Vorfälle, die kaum bekannt sind

Auch abseits der großen Razzien gab es in Baden-Württemberg in den vergangenen Jahren zahlreiche Vorfälle mit Reichsbürgern, die Staatsstreiche planten oder Polizisten verletzen. Viele davon bekamen kaum Aufmerksamkeit oder versickerten als vermeintliche Einzelfälle im Fluss der Nachrichten.

Erst gesammelte Fälle der jüngeren Vergangenheit vermögen die Tragweite des Problems darzustellen:

 

Die Karte zeigt prominente Reichsbürgerfälle, die mit schweren Straftaten in Verbindung stehen. Die jüngste Razzia Ende November mit neun Beschuldigten in Baden-Württemberg wird mangels Erkenntnisse noch nicht aufgeführt.

Religionswissenschaftler Blume macht noch zwei andere Gründe als wesentlich dafür aus, dass sich Verschwörungsmythen und Reichsbürgerideologien im Südwesten besonders gut ausbreiten. „Die Bewegung Querdenken ist in Baden-Württemberg entstanden, weil es sich hier lohnt, die Leute abzuzocken. Verschwörungsunternehmertum lohnt sich im wohlhabenden süddeutschen Raum einfach viel mehr“, sagt er.

Damit spielt Blume auf die Corona-Protestbewegung des Stuttgarter Unternehmers Michael Ballweg an, der sehr erfolgreich Geld für seine Initiative eingeworben hatte. Ihm wird von der Staatsanwaltschaft unter anderem versuchte Geldwäsche vorgeworfen, Ballweg wurde inzwischen allerdings aus der Untersuchungshaft entlassen – ob ein Hauptsacheverfahren gegen ihn eröffnet wird, ist noch unklar.

Teile der Waldorf-Bewegung haben problematische Ansichten

Außerdem sind Baden-Württemberg und die Schweiz das Entstehungsgebiet der Anthroposophie, der esoterischen Weltanschauungslehre von Rudolf Steiner: der Sitz seiner Gesellschaft bei Basel, die erste Waldorf-Schule nach seiner Lehre in Stuttgart. In diesem Milieu gibt es durchaus Tendenzen, Ärzten oder auch dem Schulamt zu misstrauen, sagt Blume – das gilt aber nicht für alle, es gibt Reformbewegungen.

Blume versucht, diese zu unterstützen. Er warnt aber auch: „Wenn diese Bewegung umkippt, dann hat der ganze deutschsprachige Raum ein Problem.“ Die Anthroposophie könnte noch mehr tun gegen die gefährlichen Tendenzen in den eigenen Reihen.

Die Mitte der Gesellschaft ist nicht gefeit vor Verschwörungsmythen

Den wohlsituierten Mittelstand, der sich auch in den genannten Bewegungen findet, diese sogenannte breite „Mitte der Gesellschaft“ im Südwesten, sieht Blume auch überhaupt nicht als Widerspruch zum hiesigen Erfolg von Verschwörungsmythen bis hin zum Reichsbürgertum: „Auch Leute, die von sich glauben, sie seien in der Mitte der Gesellschaft und es ginge ihnen nur um Freiheit, können einen übersteigerten Hass auf den Staat entwickeln. Dass der Steuern einnimmt, macht ihn dann zum Räuberstaat.“

Das eskaliere dann weiter: Die Politiker seien allesamt Teil der Verschwörung, die Gesetze gar nicht gültig. „Das ist ein häufiger Zugang zum Reichsbürgermilieu“, sagt Blume. Gerade in Baden-Württemberg (mit seinem vielfältigen Unternehmertum) gelte es das besonders genau zu beobachten.

Zur Bekämpfung sei auch eine Stärkung der Kommunen nötig, die oftmals erster Anlaufpunkt für die kruden Widerspruchsschreiben und sonstigen Eingaben der Reichsbürger sind – gerade für kleinere Gemeinden laut Blume „eine unglaubliche Belastung“. Behörden berichten von persönlichen Drohungen gegen Sachbearbeiter und von regelrechten Bombardements mit Briefen oftmals gleichen Inhalts, aber von verschiedenen Personen verschickt.

Wer gehört alles zu den Reichsbürgern?

Bei der Kategorie „Reichsbürger und Selbstverwalter“ des Verfassungsschutzes gibt es aber Zuordnungsprobleme – die Ansichten einzelner Gruppen weichen teilweise stark voneinander ab. Das macht es kompliziert, sie als einen Phänomenbereich zu erfassen. Welche Einstellungen muss jemand haben, um zu dieser Kategorie zu zählen?

Für Michael Blume ist das vor allem ein Definitionsproblem. Er wirbt deshalb für eine andere Kategorie: „Wir sollten den Begriff des Dualismus verwenden, weil das gewissermaßen die psychologische Grundstruktur ist, die all diese Verschwörungsgläubigen verbindet: die Teilung der Weltsicht in ein absolut Gutes und absolut Böses.“

Verfassungsfeindliche Organisationen einfach verbieten?

Umsturzpläne, Waffenarsenale, Schüsse auf Polizisten – warum werden solche verfassungsfeindlichen Organisationen nicht einfach verboten? „Weil man es nicht einfach verbieten kann! Wir müssen daran arbeiten, dass Menschen selber erkennen, dass der Weg von Verschwörungsglauben und Dualismus in den Abgrund führt“, sagt Michael Blume. Das sei eine Entscheidung, die schon in der Jugend getroffen werde. „Und ein freiheitlicher Staat riskiert eben, dass Menschen sich auch manchmal frei falsch entscheiden können.“

Diesen Preis müssten wir zahlen, weil wir sonst unsere Freiheit aufgeben würden, meint der Antisemitismusbeauftragte. „Ich will nicht in einem Land leben, in dem ein Ministerium festlegen könnte, was die Wahrheit ist. Und dann jede Gegenstimme unterdrückt. Wir müssen aber Grenzen ziehen. Wir wollen Vielfalt – und erst wer diese Vielfalt bekämpft, wer dualistisch wird, dort schreiten wir ein.“