Es hätte ein fröhlicher Tag werden sollen, ein unbeschwertes Familientreffen. Anlässlich des jüdischen Feiertages Simchat Torah, der am Freitagabend begonnen hatte, war die 34-jährige Israelin Doron Katz Asher mit ihren beiden Töchtern, drei und fünf Jahre alt, in den Kibbutz Nir Oz zu ihrer Mutter gefahren.

Nir Oz, ein 300-Seelen-Dorf nahe des Gazastreifens im Süden Israels, ist an gewöhnlichen Tagen ein idyllischer Ort, mit flachen, weißen Häuschen, alten Feigenbäumen, gewundenen Pfaden und einem botanischen Garten. An diesem Samstag jedoch verwandelte er sich in die Kulisse eines Albtraums.

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Am frühen Morgen überwanden Hunderte Männer der Hamas, von der EU und anderen westlichen Staaten als Terrororganisation eingestuft, die Grenze zu Israel und überfielen über zwanzig Dörfer und Kibbutzim, darunter auch Nir Oz. Was danach geschah, berichtete Yoni Asher, Dorons Ehemann, Stunden später dem israelischen Fernsehsender Kann. „Heute Morgen hat meine Frau mir am Telefon gesagt, dass Terroristen ins Haus gekommen sind.“

Deutsche Mutter mit ihren beiden Kindern in den Gazastreifen entführt

Anschließend brach der Kontakt ab, doch mittels Google sei es ihm gelungen, den Standort ihres Telefons ausfindig zu machen: Chan Younis, eine Stadt im Gazastreifen. Und kurz darauf brachte ein Video, das in den sozialen Medien geteilt wurde, erschreckende Gewissheit.

Das Video, nur wenige Sekunden lang, zeigt eine blonde Frau mit zwei kleinen Mädchen, offenbar auf der Ladefläche eines Pickups, umringt von schwarz gekleideten Männern. Einer von ihnen zieht der Frau einen Hut über den Kopf, offenbar, um sie am Sehen zu hindern. „Ich habe sie sofort erkannt“, sagte Asher. Auch seine 70-jährige Schwiegermutter und ihr Lebensgefährte wurden offenbar entführt.

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Doron Katz Asher und ihre Mutter, Efrat Katz, besitzen nach Angaben der Familie die deutsche Staatsbürgerschaft. „Wir wollen, dass bekannt wird, dass sie dort in Gaza sind“, sagte Yarden Grienfeld, die Schwägerin Katz Ashers, dieser Zeitung am Telefon mit vor Schock gebrochener Stimme. „Wir wollen, dass man sie nach Hause holt.“

Auch Soldaten unter Entführten

Bei den Großangriffen der islamistischen Hamas sind nach israelischen Angaben mehr als 100 Menschen in Israel entführt worden. Das teilte das Pressebüro der Regierung am Sonntag auf Facebook mit. Die israelische Armee, die IDF, gibt an, dass unter den Entführten sowohl Soldaten und Soldatinnen als auch etliche Zivilisten.

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In den sozialen Medien kursieren zahlreiche Videos, die zeigen, wie Hamas-Terroristen mit Maschinenpistolen über der Schulter Menschen gewaltsam hinter sich herzerren, in Autos schubsen oder auf Motorrädern davonfahren. Manche der Geiseln sind offenbar verwundet, bluten aus Wunden an Kopf oder Händen.

Entführte Tattoo-Künstlerin hat Familie in Ravensburg

Auf einem besonders schwer erträglichen Video fahren Männer der Hamas mit einem Kleinlastwagen durch den Gazastreifen, auf dessen Ladefläche eine halbnackte junge Frau liegt, entweder bewusstlos oder tot. Umstehende Passanten jubeln. Bei der Frau soll es sich ebenfalls um eine deutsche Staatsbürgerin handeln: eine Tattoo-Künstlerin namens Shani Louk. Sie hatte im Süden Israels nahe dem Gazastreifen ein Festival besucht.

Shani Louk hat dem „Spiegel“ zufolge nie in Deutschland gelebt, war aber mehrfach zu Besuch bei ihren Großeltern in Ravensburg in Baden-Württemberg. Ihre Mutter, eine Katholikin, die später zum Judentum konvertierte, war nach Israel ausgewandert. Der jüdische Vater ist Israeli. Die Familie lebe etwa 80 Kilometer vom Gazastreifen entfernt. Die junge Frau hat demnach aber die deutsche Staatsbürgerschaft.

Louks Mutter veröffentlicht bewegendes Video im Internet

Louks Mutter veröffentlichte am Samstag ein Video in den sozialen Medien, in dem sie erklärte, ihre Tochter auf dem Hamas-Video identifiziert zu haben. „Ich bitte (darum), jede Hilfe, jede Neuigkeit bitte zu uns zu schicken“, sagt sie, während sie ihr Telefon mit einem Bild ihrer Tochter in die Kamera hält.

Unter den Geiseln befinden sich offenbar auch eine 85 Jahre alte Frau namens Yaffa Adar, die auf einem Foto zwischen Hamas-Männern in einem Fahrzeug zu sehen ist, sowie weitere Kinder. Auf einem Video, das in den sozialen Medien kursiert, ist ein kleiner, rotblonder Junge zu sehen, der von offenbar palästinensischen Jungen herumgeschubst wird. „Die Jungs freuen sich über den Juden“, sagt ein erwachsener Mann auf Arabisch lachend im Hintergrund. Zwei weitere Dutzend Geiseln in den Kibbutzim Ofakim und Be‘eri konnte die Armee eigenen Angaben zufolge befreien.

Netanjahu kündigt langen Krieg an

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat einen langen und harten Krieg zur Vergeltung angekündigt. Dass die Hamas etliche israelische Geiseln im Gazastreifen versteckt hält, könnte den Einsatz jedoch erschweren. Laut israelischen Medien soll die Hamas gedroht haben, die Geiseln als „menschliche Schutzschilde“ zu verwenden.

Palästinenser fahren auf einem israelischen Militärfahrzeug, das von einem von Hamas-Kämpfern überrannten Armeestützpunkt in der Nähe ...
Palästinenser fahren auf einem israelischen Militärfahrzeug, das von einem von Hamas-Kämpfern überrannten Armeestützpunkt in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen mitgenommen wurde. | Bild: Abed Abu Reash/AP/dpa

Manche Analysten vermuten dagegen, dass die Hamas mit der Geiselnahme Mitglieder der Organisation aus israelischen Gefängnissen freipressen wolle. Für die Freilassung von Gilad Shalit, einem israelischen Soldaten, der fünf Jahre von der Hamas als Geisel gehalten worden war, hatte Israel im Jahr 2011 über Tausend palästinensische Gefangene freigelassen. Doch dass die aktuelle rechts-religiöse Regierung sich auf eine ähnliche Abmachung einlassen könnte, scheint schwer vorstellbar.