Herr Gysi, Sie und Friedrich Merz verbinden Jahrzehnte im Bundestag, Sie saßen erstmals 1990 im Parlament, er 1994. Worauf hätten Sie damals eher gewettet: dass Sie Alterspräsident werden oder dass er Bundeskanzler wird?
Also, das hätte ich beides für ausgeschlossen gehalten. Aber eher noch, dass er Bundeskanzler wird, als dass ich Alterspräsident werde.
Weil Sie früher Schluss machen wollten mit der Politik?
Weil ich mir gar nicht vorstellen konnte, zunächst, dass ich so lange im Bundestag bleibe. Das ist ja auch für mich sehr anstrengend gewesen. Die Mehrheit der Bevölkerung lehnte mich einige Jahre ab. Ich selbst fand mich netter. Und habe plötzlich festgestellt, dass ich doch preußisch stur bin, weil ich gesagt habe: Das geht so nicht, du musst erreichen, dass eine Mehrheit dich akzeptiert.
Und wenn ich an meine Begrüßung im Bundestag im Jahr 1990 denke und an mein Auftreten als Alterspräsident, liegen Welten in der Behandlung dazwischen.
Und jetzt ist es soweit, dass die Villinger Tonhalle im Nu ausverkauft ist, wenn Gregor Gysi angekündigt wird.
Ja, da ist was passiert, was ich Ihnen ehrlich gesagt auch nicht richtig erklären kann. Ich war, solange ich Partei- und dann Fraktionsvorsitzender war, bei den Umfragen des ZDF-Politbarometers unter den zehn wichtigsten Politikern. Und ich hatte immer Platz zehn, mit einem Minuswert.
Ein einziges Mal war ich auf Platz neun, weil Jürgen Trittin auf Platz zehn war. Da habe ich ihn angerufen und gesagt, das ist eine Frechheit, das ist mein Platz. Als ich später als Fraktionschef aufhörte, war ich nicht mehr drin im Politbarometer. Und jetzt, kurz vor der Wahl, war ich wieder dabei und dann auf Platz zwei der Beliebtheitsskala. Mit einem Pluswert. Also es hat mich selbst überrascht, das muss ich zugeben.
Bei der Bundestagswahl landete die Linke bei 8,8 Prozent. War Friedrich Merz durch seine Migrationsabstimmung mit der AfD Ihr bester Wahlkampfhelfer?
Nein. Also selbst wenn es uns wegen unserer Gegnerschaft aufgebaut haben sollte, hätte ich gerne darauf verzichtet. Das war der erste Versuch in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, seit Gründung im Mai 1949, ein Gesetz mithilfe rechtsextremer Stimmen durchzusetzen.
Schätzen Sie Merz trotzdem noch als einen Mann von Prinzipien oder halten Sie ihn jetzt für einen Wendehals?
Vor der Wahl hat er etwas anderes gesagt, als er dann machte und macht. Ich sage Ihnen, was ein weiteres Problem mit ihm ist. Ich frage mich: Ist er geprägt von der Demütigung, die Merkel ihm beigebracht hat? Und kommt er darüber hinweg oder nicht? Ich sage das nur deshalb, weil mir das Sorge macht.
Er muss wissen, Merkel interessiert nicht mehr, er ist dann der Kanzler der gesamten Bundesrepublik Deutschland. Und das in einer extrem schwierigen Situation. Darauf muss er sich konzentrieren, auf nichts anderes. Und dann muss er auch mal Leuten zuhören, die eine andere Auffassung haben.
Kann er wirklich noch von dieser Demütigung, also dem vor 20 Jahren verlorenen parteiinternen Machtkampf gegen Merkel, geprägt sein?
Er ist ja ein Konservativer, das dürfen Sie nicht vergessen. Und er ist ein Westdeutscher und das seit ewigen Zeiten. Und dann kommt so eine FDJ-Frau aus dem Osten. Es ist nicht so, dass ich nicht verstehe, weshalb ihn das trifft. Das Problem ist nur, dass er daran überhaupt nicht mehr denken darf, wenn er zum Kanzler gewählt wird.
Können Sie sich vorstellen, dass Ihre Partei mit der Union Grundgesetzänderungen zustimmt, um etwa an der Schuldenbremse zu schrauben, wofür eine Zweidrittelmehrheit nötig wäre?
Also wir könnten uns da einen Kompromiss vorstellen. Ich habe damals gesagt, wozu schreibt ihr denn die Schuldenbremse ins Grundgesetz? Es hindert euch doch keiner, weniger Schulden zu machen. Dann haben sie gesagt, man müsse sich auch selbst disziplinieren. Ein Schwachsinnsargument, aber okay. Aber ich habe da einen klaren Grundsatz. Ich sage immer, laufende Ausgaben darf man nie von Schulden bezahlen, Zukunftsinvestitionen schon.
In Ihrer Rede als Alterspräsident haben Sie klar gemacht, wo man nicht sparen sollte: Gesundheit, Bildung und Ausbildung, Kultur, weitgehend nicht bei Wissenschaft. Wo denn dann?
In der gesamten Bürokratie kann man unheimlich sparen. Und wir können Geld sparen, wenn wir nicht so viele Schulabbrecher hätten, nicht so viele Ungelernte, die dann immer Sonderprogramme bekommen. Das könnten wir verhindern, indem wir Kinder nicht so früh trennen in der Schule, indem wir vor allen Dingen die Länder zwingen, zu kooperieren. Es ist immer besser, die Chancengleichheit von Kindern zu organisieren, als im Nachhinein alle Schäden zu reparieren.
Und dann brauchen wir natürlich auch gerechte Steuern. Davon sind wir weit entfernt. Ich sage immer das Beispiel: Eine Mittelstandsfamilie zahlt bei uns von allen Einnahmen im Schnitt 43 Prozent Steuern und Abgaben und eine Milliardärsfamilie 26 Prozent.
Die Linke will Reiche mehr belasten. Ab welchem Bruttolohn ist man für Sie reich?
Na, ich würde einen neuen Spitzensteuersatz machen für das, was jemand über 100.000 Euro im Jahr verdient. Damit bin ich milder als Kohl. Denn bei Kohl galten 53 Prozent für alles, was du mehr als 80.000 verdient hast. Das ist mir zu früh, ich würde das erst bei mehr als 100.000 ansetzen.
Meiner Partei versuche ich immer zu erklären, dass es einen Unterschied zwischen Enteignung und Besteuerung gibt. Das sind zwei verschiedene Vorgänge, juristisch und politisch.
Sie überzeugt das Schweizer Modell der Vermögenssteuer, die ab einer Million Franken greift und je nach Kanton und Gemeinde zwischen einem und fünf Promille liegt. Was finden Sie daran gut?
Ich fände es gut, dass wir dann auf Deutschland umgerechnet 73 Milliarden Euro Mehreinnahmen hätten. Und der Schweiz kann keiner vorwerfen, dass sie zum Staatssozialismus tendiert. Sie haben genügend reiche Leute. Das Argument, dass bei einer Vermögenssteuer alle umziehen auf die Seychellen, das ist ja auch Quark.
Da haben Sie ja auch schon eine Idee…
Da können wir US-Recht einführen. Da ist es ja so, dass jeder US-Bürger, wenn er woanders wohnt, einmal im Jahr seine Welteinnahmen einem Finanzamt in den USA mitzuteilen hat und dann seinen Steuerbescheid von Monaco oder den Seychellen oder einem anderen Ort überreichen muss. Und wenn er dort weniger zu bezahlen hat, kriegt er hinsichtlich der Differenz einen Steuerbescheid.
Warum können wir das nicht einführen? Die sollen ja alle in Monaco wohnen, das ist mir völlig wurscht. Aber einen Steuerbescheid kriegen sie trotzdem. Außerdem haben wir kein belgisches und kein luxemburgisches Recht. Die haben nämlich geregelt, dass jedes Jahr alle Löhne, Gehälter, Pensionen, Renten und Sozialleistungen automatisch um die Inflationsrate des Vorjahres erhöht werden. Da nimmt auch die Kaufkraft nie ab.

Wie sollen Firmen das finanzieren, wenn sie selbst etwa höhere Energiekosten als Belastung haben?
Man muss beim Mittelstand aufpassen, der darf nicht höher in Anspruch genommen werden. Die Lohnsteigerung verkraften sie schon, weil es ja bedeutet, dass auch die Kaufkraft nicht sinkt. Was glauben Sie, was das für den Einzelhandel für Verluste zu Weihnachten des Vorjahres waren? Die Leute haben viel weniger eingekauft, weil sie weniger Geld hatten.
Außerdem haben sie mit diesem Modell weniger Streiks. Dann streikst du doch nur, wenn du eine wirkliche Lohnerhöhung erzielen willst, weil die Gewinne zugenommen haben. Aber heute musst du streiken, nur um den Inflationsausgleich zu bekommen. Und das ist 2020, 2021, 2022 und 2023 nicht gelungen. Die Inflationsrate war immer höher als die Lohn- und Rentensteigerungen.
Das gibt es in Luxemburg und Belgien nicht. Deshalb kann man sich das doch mal anschauen. Das sind doch zwei ganz normale kapitalistische Länder.
Zur Wehrpflicht: Nur 17 Prozent der Deutschen wären bereit, Deutschland mit der Waffe zu verteidigen. Wie stünde es denn mit Ihnen?
Ich bin schon 77. Das wäre ein gewisses Hindernis.
Angenommen, Sie wären jetzt noch ein paar Jahre jünger.
Es gibt einen genetischen Schaden in meiner Familie, auf den ich stolz bin. Mein Urgroßvater war keinen Tag bei der Armee. Mein Vater war keinen Tag bei der Armee. Ich war keinen Tag bei der Armee, was in der DDR nicht leicht war. Und meine beiden Söhne auch nicht. Ich weiß nicht, wie die das geschafft haben. Wir sind dafür nicht geeignet.
Und wie sehen Sie es politisch?
Die Wehrpflicht ist im Grundgesetz geregelt. Es ist auch die Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz geregelt. Was neu wäre, wäre ein soziales Pflichtjahr. Kannst du natürlich machen. Aber was machen wir dann mit der Gleichstellung der Geschlechter?
Dafür braucht man eine Grundgesetzänderung. Wären Sie dann dabei?
Zu sagen, auch die Frauen sollen zur Armee gehen, das würde in meiner Partei und in der Gesellschaft einen Riesen-Zank auslösen, an dem will ich mich erst beteiligen, wenn es soweit ist, ehrlich gesagt. Ich weiß es nicht. Vielleicht nehmen wir dann doch nur Männer für den Wehrdienst und verpflichten die Frauen zu einem Sozialjahr.
Das wäre nicht gerade Gleichstellung.
Man könnte auch entscheiden, dass Frauen und Männer verpflichtet sind, eine bestimmte Zeit entweder zu Bundeswehr oder ins Sozialjahr zu gehen. Jede und jeder kann selbst entscheiden, welchen Dienst sie oder er verrichten will. Ich habe nichts gegen das Sozialjahr. Aber ich würde beide Pflichten erst einführen, wenn es freiwillig beim besten Willen nicht mehr geht. Ob es sonst etwas bringt, die Leute zu zwingen, glaube ich nicht.

Die Bundeswehr braucht mehr Personal. Wie würden Sie dafür sorgen?
Also mich interessiert mal, wie das Frankreich macht. Frankreich gibt weniger Geld aus als wir und hat mehr Soldaten. Also eigentlich müssten sie ja theoretisch schon deshalb mehr Geld benötigen. Wie schaffen die das? Die haben 2023 etwas über 61 Milliarden US-Dollar ausgegeben, wir über 66 Milliarden US-Dollar. Und keiner bestreitet, dass die französischen Streitkräfte in der Lage sind, Frankreich zu verteidigen.
Warum ist unsere Bundeswehr nicht dazu in der Lage? Vielleicht muss man mal nicht nur an Geld denken, sondern Strukturen verändern. Ich bin bloß nicht der Meinung von Boris Pistorius, dass die Bundeswehr kriegstüchtig werden muss. Ich möchte nicht, dass von Deutschland jemals wieder ein Angriffskrieg ausgeht. Der letzte reichte.
Das will Pistorius sicher auch nicht.
Nein, das glaube ich auch nicht. Aber dann muss man auf solche Begriffe verzichten.