Der Mann wirkt alterslos. Kaum Falten im verschmitzt dreinblickenden Gesicht, die Glatze glänzt gesund im Scheinwerferlicht. Gregor Gysi gestikuliert und scherzt, er scheint jederzeit bereit, nochmal fünf Minuten weiterzureden. „Ach, das mach ich hier auch alleine“, sagt er irgendwann im Laufe des Gesprächs mit SÜDKURIER-Chefredakteur Stefan Lutz und schickt ihn scherzhaft von der Bühne des VS-Forums in der Villinger Tonhalle.

Die 77 Lebensjahre merkt man dem Berliner Linken-Politiker kaum an. Jede seiner Pointen ist ein Lacher. Gysi redet schnell und manchmal kreuz und quer durchs Themenbeet, aber schließlich läuft immer alles auf etwas Gutes hinaus, eine lustige Wendung, gerne selbstironisch. Das Publikum freut sich.

Was denn noch aus ihm werden solle, will Lutz vom Alterspräsidenten des Bundestags wissen. Also, die Regierung Scholz sei ja überfordert gewesen, von Merz erwartet er nichts anderes. „Nur eine Regierung unter meiner Leitung wäre nicht überfordert“, meint Gysi mit einem Augenzwinkern. Dass das Karriereziel Kanzleramt für einen Linken unvorstellbar ist, weiß er selbst am besten.

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Man müsste ihn klonen

Die Linke landete in Villingen-Schwenningen bei der vergangenen Bundestagswahl bei 5,7 Prozent (2,6 Prozent mehr als 2021) – womit die Doppelstadt repräsentativ für ganz Baden-Württemberg ist. Linke Politik erfreut sich im Südwesten traditionell keiner großen Beliebtheit, im Landtag war die Linke noch nie vertreten. Das Publikum dürfte also nicht überwiegend aus Leuten bestehen, de ihr Kreuz bei der Linken gemacht haben. Trotzdem ist die Tonhalle binnen kurzer Zeit ausgebucht, das Interesse an Gregor Gysi riesig.

Eine Überraschung ist das nicht. Gysis Berliner Büroleiter hätte ihn im Wahlkampf klonen können, wie er am Telefon verrät, so zahlreich waren die Anfragen. Auch jetzt ist Gysi wieder auf Tour durch die halbe Republik. Was er zu sagen hat, wollen die Leute hören.

Die Gründe dafür leuchten einem sofort ein, wenn man ihm begegnet: Gysi schafft es, dass an einem Abend über Politik kein Moment der Langeweile aufkommt – und man letztlich mit dem guten Gefühl nach Hause geht, dass die Welt auch wieder in Ordnung kommen kann, würde man sich nur an ein paar seiner Ratschläge halten.

Linke Mitschuld am Wahlerfolg der AfD im Osten

Den SED-Vorsitzenden der Wendezeit, der es geschafft hat, dass er und seine Partei in Gesamtdeutschland Fuß gefasst haben, darf man getrost einen Experten für den Osten nennen.

Wie also er erklärt er sich die nach den jüngsten Wahlen blau eingefärbte politische Landkarte auf dem früheren Gebiet der DDR? Dem Berliner fällt dazu so einiges ein, durchaus auch Selbstkritisches. Seine eigene Partei habe den Osten vernachlässigt, habe sich zu sehr darauf konzentriert, im Westen anzukommen, der AfD habe man den Platz überlassen.

Gysi redet gern und viel – aber immer unterhaltsam.
Gysi redet gern und viel – aber immer unterhaltsam. | Bild: Hans-Jürgen Götz

Mehr Ehrlichkeit in der Politik, mehr Gerechtigkeit, auch das Eingeständnis, dass im Osten Fehler gemacht wurden, eine Vereinbarung für anständigen Umgang miteinander – Gysis Ratschläge sind wenig revolutionär, aber positiv. Der bekennende Zweckoptimist hat den Glauben nicht daran verloren, dass man etwas drehen kann an den Wahlergebnissen im Osten.

Und dann kamen Merz und Reichinnek

Bloß nicht aufgeben, positiv denken und der Erfolg kommt dann schon. Seiner Linken jedenfalls ist das geglückt. Wenige Monate vor der Wahl war man noch auf verlorenem Posten, drohte die Fünf-Prozent-Hürde zu verfehlen.

Da kam die Silberlocken-Kampagne der Linken-Altstars Gysi, Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow – und dann noch Glück dazu: CDU-Chef Friedrich Merz ließ seine Union mit der AfD stimmen, die Sorge vor einem Rechtsruck trieb die Wähler zur Linken. Auch weil dort auch die jungen Linken-Vertreter wie Heidi Reichinnek wissen, wie man sich auf Social Media verkauft.

Am Ende standen bundesweit 8,8 Prozent für die Linke, fast vier Prozent mehr als 2021 – und das trotz der Abspaltung durch Sahra Wagenknecht. Dass es das Bündnis von letzterer nicht in den Bundestag schaffte: „Ich würde sagen, mein Mitleid hält sich in Grenzen“, so Gysi.

Gesundheitliche Tiefschläge

Auch privat ist Gysi ein Stehaufmännchen. Schwere Krankheiten hat er hinter sich gelassen – drei Herzinfarkte und eine Hirn-Operation wegen eines Aneurysmas suchten ihn vor 20 Jahren heim. „Danach hatte ich ein halbes Jahr Schwierigkeiten mit Fremdwörtern, aber bei meinem ersten öffentlichen Auftritt danach fiel das nicht auf.“

Der österreichische Künstler Alfred Hrdlicka, der mit ihm auf dem Podium saß, habe, schwerer Alkoholiker, der er war, noch stärker gelallt. Von den gesundheitlichen Einschnitten ist laut Gysi nichts hängen geblieben – außer dass er seither lieber Tee trinke als Kaffee, Schokolade kaum mehr anrühre, er Mücken nicht mehr magisch anziehe und sein rechter Arm sich nicht mehr so schnell nach oben bewegen lasse. Der linke funktioniert, klar.

Politisch hat Gysi schon so manches überstanden: Dem Ex-SED-Chef wurde in seinen Anfangszeiten im Bundestag mit wüsten Zwischenrufen belegt, die Union spendet ihm bis heute keinen Applaus – bei seiner Rede als Alterspräsident klatschte allein Bundestagspräsidentin Julia Klöckner aus der Fraktion von CDU/CSU.

Immer wieder wurde ihm Stasi-Spitzelei vorgeworfen, aber nie nachgewiesen: „Ich habe inzwischen von allen Gerichten Recht bekommen“, sagt er in Villingen. Gysi setzt im Umgang mit anderen auf Anstand und feinsinnigen Humor. Politische Freundschaften pflegt er durchaus auch jenseits der linken Hemisphäre.

Chefredakteur Stefan Lutz (l.) und der neue Geschäftsführer des SÜDKURIER, David Lämmel (r.), mit Gregor Gysi in der ausverkauften Tonhalle.
Chefredakteur Stefan Lutz (l.) und der neue Geschäftsführer des SÜDKURIER, David Lämmel (r.), mit Gregor Gysi in der ausverkauften Tonhalle. | Bild: Hans-Jürgen Götz

Wer der klügste Politiker sei, der ihm je begegnete, will Stefan Lutz wissen. Gysi muss nicht lange überlegen, bevor er auf den verstorbenen badischen Christdemokraten Wolfgang Schäuble tippt. Vor dem und seinem großen Wissen hat Gysi Respekt. Dieser beruhte offenbar auf Gegenseitigkeit.

Schäuble habe gewusst, dass er dazu beigetragen habe, dass die Wende ohne einen Schuss abging – und das habe er ihm auch gesagt. Sprechen durfte Gysi freilich erst viel später darüber.

Schäuble, Strauß, Honecker

Wer Gregor Gysi fragt, bekommt meist eine Anekdote serviert. Der Schatz an Begebenheiten ist reich bei mehr als 30 Dienstjahren und einem deutsch-deutschen Leben, das weite Teile der Zeitgeschichte umfasst. Vielleicht ist das ein punkt, an dem man sein Alter merkt: So wie er von den Gemeinsamkeiten von Franz-Josef Strauß und Erich Honecker berichtet, könnte man meinen, er sei dabei gewesen. TikTok-tauglich wäre das nicht.

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Demokratie, Freiheit und Rechtstaatlichkeit will Gysi verteidigen und dabei setzt er vor allem auf die Bildung. Nach radikaler Linke klingt das alles nicht. Dass seine neuen Fraktionskollegen den Antifa-Schlachruf „Alerta, alerta, antifascista!“ (Achtung, Achtung, Antifaschist) in der ersten Sitzung skandierten.

Gysi schreibt das ihrer Jugend und Unerfahrenheit zu. „Die kennen die politische Arbeit noch gar nicht.“ Revolutionäres Gehabe? Nicht mit ihm. Die Methode Gysi ist da geduldiger: Da werden politische Forderungen so lange vorgetragen, bis irgendwann der Zeitgeist reif dafür ist. Gysis Beispiel: der Mindestlohn.

Warten bis der Zeitgeist reif ist

Auf den Zeitgeist setzt der 77-Jährige übrigens auch in Sachen Verteidigung: „Die Mehrheit will aufrüsten. Ich arbeite daran, dass der Zeitgeist sich ändert“, sagt Gysi, der mit seiner Fraktion zu den letzten Widerständlern gegen Aufrüstung gehört.

Seine Argumente dafür finden auch im Publikum Anklang: „Wenn weltweit aufgerüstet wird, wird der Krieg wahrscheinlicher.“ Und: „Es wird an Kriegen zu viel verdient.“ Einen Punkt hat er. Die sicherheitspolitischen Herausforderungen sind damit aber auch nicht zu lösen.

Schlange stehen für ein Selfie mit Gregor Gysi.
Schlange stehen für ein Selfie mit Gregor Gysi. | Bild: Hans-Jürgen Götz

Nach zwei Stunden auf der Bühne ist Schluss, auch wenn Gysi noch lange nicht alles gesagt hat, was zu sagen wäre. Schnell ins Hotel kommt er aber danach nicht. Hin zum Bühnenabgang bildet sich schnell eine Schlange von Fans, die ein Selfie mit der Linken-Ikone machen wollen. Gysi weist niemanden ab, umarmt und posiert lächelnd.