Sie ist eine Frau, links und hat türkischen Migrationshintergrund: Derya Türk-Nachbaur ist Anfeindungen und Vorurteile gewöhnt. Der 49-Jährigen ist es gelungen, als erste SPD-Kandidatin seit 20 Jahren für den Schwarzwald-Baar-Kreis in den Bundestag einzuziehen.

Selbstbewusst tritt die Tochter türkischer Gastarbeiter auf, die im ostwestfälischen Paderborn aufgewachsen ist. Die frühere Gemeinderätin aus Bad Dürrheim hat per Listenplatz erstmals ein Mandat im Bundestag errungen, heute sitzt sie dort im Ausschuss für Menschenrechte sowie für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Soziale Gerechtigkeit, Frauenrechte und eine offene Gesellschaft sind ihr wichtig, wie sie beim Redaktionsgespräch mit dem SÜDKURIER betont.

Derya Türk-Nachbaur (SPD) begann ihre Arbeit für die Sozialdemokraten im Gemeinderat von Bad Dürrheim. Heute ist sie Kreisvorsitzende ...
Derya Türk-Nachbaur (SPD) begann ihre Arbeit für die Sozialdemokraten im Gemeinderat von Bad Dürrheim. Heute ist sie Kreisvorsitzende und Mitglied im Landesvorstand der Partei. | Bild: Hanser, Oliver

Hassmails unter der Gürtellinie

Von Frustration keine Spur. Dabei erlebt sie bis heute Anfeindungen. Wöchentlich erstatte sie Anzeige gegen die Autoren von Hassmails, sagt sie. „Diese Mails enden meist mit sexualisierten Anfeindungen“, berichtet Türk-Nachbaur: „Da stehen dann Dinge wie ‚Du brauchst mal einen guten Fick‘.“

Hin und wieder gelinge es den Ermittlern, die Klarnamen der oft anonymen Zuschriften auszumachen – gegen einen dieser „Trolle“, wie Türk-Nachbaur die Menschen nennt, die ihr diese Zeilen schicken, wird nun juristisch vorgegangen.

Aufhalten lassen will sich Türk-Nachbaur von solchen Pöblern nicht. Wohl aber will sie dazu beitragen, dass die Gesellschaft offener wird. „Das Bild der Migration, das viele noch haben, stimmt einfach nicht mehr“, sagt sie dem SÜDKURIER.

Vorurteile bleiben

Immer wieder werde sie gefragt, ob sie überhaupt Deutsch spreche. Wie sie darauf reagiere? Schlagfertig: „Ja, ich spreche Deutsch. Vielleicht sogar besser als Sie“, gibt sie mitunter zurück. Doch völlig spurlos gehen solche Anfeindungen und Vorurteile nicht an ihr vorbei: „Wie viele Generationen muss man denn zurückgehen, um dazuzugehören?“, fragt sie sich.

Obwohl sie in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, kennt Türk-Nachbaur das Gefühl der Heimatlosigkeit, das Gefühl, „weder das Eine noch das Andere“ zu sein. Als eines von vier Kindern einer Gastarbeiterfamilie hat sie das Abitur gemacht und begann zu studieren.

Ausbildung fördern

Dabei hatte man ihr und ihren Geschwistern, so erzählt sie, empfohlen, doch besser die Hauptschule zu besuchen und eine Ausbildung zu machen – „das könne man dann ja in der Türkei besser brauchen“.

Das Bewusstsein dafür, dass Kinder mit Migrationshintergrund nicht weniger begabt sind als andere, sei schon größer geworden, so Türk-Nachbaur, „aber es passiert immer noch“, ergänzt sie mit Blick auf Diskriminierung auch durch Lehrer.

Heute engagiert sich Türk-Nachbaur für ein stärkeres Bafög, von dem bislang nur elf Prozent der Studenten profitierten: „Das muss elternunabhängiger werden“, fordert sie unter anderem. Auch das Bafög für Ausbildungen und die Meisterprüfung will sie voranbringen. „Wir brauchen mehr gesellschaftliche Durchlässigkeit“, sagt sie.

Denn während es für ein Kind eines Akademikers praktisch gegeben sei, dass dieses ebenfalls eine akademische Ausbildung bekomme, werde von Kindern aus Handwerkerfamilien nicht erwartet, dass sie diesen Weg gingen.

Derya Türk-Nachbaur (von links) im Gespräch mit Mirjam Moll, Angelika Wohlfrom, Chefredakteur Stefan Lutz und Politikressortleiter ...
Derya Türk-Nachbaur (von links) im Gespräch mit Mirjam Moll, Angelika Wohlfrom, Chefredakteur Stefan Lutz und Politikressortleiter Dieter Löffler im Gespräch über ihr Mandat im Bundestag, Chancengleichheit und ihre Erfahrungen als Politikerin mit Migrationshintergrund. | Bild: Hanser, Oliver

Kritische Töne in Richtung Türkei

Türk-Nachbaur ging einen anderen Weg. Mehrere Jahre lebte sie in der Türkei, wollte Journalistin werden. Aus privaten Gründen kehrte sie nach Deutschland zurück, studierte, musste ihre Pläne aber als plötzlich Alleinerziehende zweier Kinder aufgeben. „Ich habe kein abgeschlossenes Studium, aber das disqualifiziert mich nicht als Mensch“, betont sie.

„Ich habe gekellnert, um meine Kinder durchzubringen und ich schäme mich nicht dafür“, ergänzt sie. Sie weiß, was es heißt, wenn man mit wenig Geld auskommen muss. Nach der Trennung ihres ersten Partners zog es die junge Frau damals von Marburg nach Freiburg.

Heute ist sie mit dem Juraprofessor Andreas Nachbaur verheiratet, das Paar bekam zwei Kinder. Als er aus Protest gegen die Große Koalition aus der SPD austrat, rückte sie als Bewerberin für den Gemeinderat in Bad Dürrheim auf. Schon ihre Familie war in der SPD und in Gewerkschaften aktiv, die Politik hat sie schon früh begleitet. Inzwischen ist Türk-Nachbaur nicht nur Kreisvorsitzende der SPD, sondern auch im Landesvorstand der Partei.

Auch als Quoten-Migrantin mag sie sich nicht sehen. „Die SPD braucht keine Alibimigranten“, sagt sie. Die Partei habe durch ihre Nähe zu Gewerkschaften immer schon auch Menschen mit Migrationshintergrund repräsentiert.

2021 zog sie über den 19. Landeslistenplatz in den Bundestag ein und wurde dafür, gemeinsam mit zehn anderen türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten von türkischen Medien in Deutschland für ihre Mandate gefeiert. „Aber kritische Worte über die Türkei sind nicht erwünscht“, so Türk-Nachbaur.

Klartext gegen Erdogan

Seit mehr als acht Jahren war die 49-Jährige nicht mehr in der Heimat ihrer Eltern. Ihre sieht sie in der Türkei nicht mehr: „Es ist nicht mehr die Türkei, die ich mir wünschen würde“, erklärt sie ihre Haltung. „Das Unrecht, das dort geschieht, kann ich nicht unkommentiert lassen“, ergänzt sie mit Blick auf die massiven Einschränkungen der Pressefreiheit, die unter Präsident Recep Tayyip Erdogan aufgebaut wurden.

Viele ihrer Freunde und Bekannten trauten sich nicht mehr, ihre Posts auf Twitter, wo Türk-Nachbaur sehr aktiv ist, zu liken – aus Sorge, sie könnten politisch verfolgt werden. Umso wichtiger sei es ihr, sich in Deutschland für die Demokratie einzusetzen, so die Sozialdemokratin.

Das Gespräch führten Chefredakteur Stefan Lutz, Politikressortleiter Dieter Löffler sowie die Politikredakteurinnen Angelika Wohlfrom und Mirjam Moll.