Herr Lamprecht, was wissen Ihre Schüler über die Wendezeit?

Sehr wenig. Die jüngste Geschichte ist da genauso im Nebel wie die Antike. Die vor 1989 liegende Zeit ist schon eher verankert – man hat mal einen Film über den Ersten Weltkrieg oder über Hitler gesehen, man hat mal ein Kriegerdenkmal zu 1871 oder 1918 gesehen. Aber wo sind die Denkmäler der Wende- und Nachwendehelden?

Niko Lamprecht vom Verband der Geschichtslehrer
Niko Lamprecht vom Verband der Geschichtslehrer | Bild: privat

Warum ist das so? 30 Jahre sind doch keine Ewigkeit.

Ja, sie sind aber viel schwerer zu greifen, die Nahperspektive macht es nicht einfacher. Für junge Menschen spielt eine entscheidende Rolle, was ihnen von ihren Eltern und ihrer Umwelt erzählt wird. Da herrschen in Cottbus oder Kempten unterschiedliche Narrative, je nachdem, wie die Eltern zur DDR standen. Und in Kempten bzw. im Westen wird man oft sagen: Ach, das hat mich eigentlich nicht interessiert.

Sind die Erwachsenen da besser aufgestellt?

Wenn sie Historiker sind, vielleicht (lacht). Ansonsten spielt da die persönliche Prägung ebenfalls eine große Rolle. Der eine betont eher die Erfolge, der andere hat vielleicht Kränkungen im Lebenslauf erfahren. Das führt zu unterschiedlichen Bewertungen.

Uns vom Geschichtslehrerverband interessiert natürlich besonders, dass 30 Jahre nach der Wende in Umfragen die Demokratieakzeptanz nicht besser wird. Das finde ich frappierend, da setzen sich so langsam wieder Mythen durch – nach dem Motto: Früher war alles besser, vielleicht ist ja Demokratie gar nicht so toll.

Wie viel Raum nimmt das Thema Wende und Nachwendezeit im Unterricht ein?

In den Geschichtsbüchern der Schulen ist das Thema zu 95 Prozent noch nicht aktiv. Wenn man sich die Lehrpläne anschaut, dann gibt es da immer so eine Art Sicherheitsabstand: Das Dritte Reich wurde ja auch nicht schon in den 50er-Jahren objektiv beleuchtet, es wurde erst mal beschwiegen.

Beim Thema Nachwendegeschichte ist es schwer, das schon in Schulbücher zu gießen. Da ist das Angebot noch dünn. Deswegen kann man jungen Menschen auch keinen Vorwurf machen, wenn sie nur wenig Informationen haben.

Ein „Trabi“ überquert am 13. November 1989 die Glienicker Brücke in Berlin.
Ein „Trabi“ überquert am 13. November 1989 die Glienicker Brücke in Berlin. | Bild: DPA

Welche Daten und Fakten sollten ihre Schüler im Kopf haben?

Naja, ich bin jetzt nicht der Lehrer, der sagt, von 100 gelernten Daten hängt Geschichtswissen ab. Aber eine grobe Orientierung sollte man schon haben. Wir vom Geschichtslehrerverband werden zum 3. Oktober gemeinsam mit dem Mitteldeutschen Rundfunk das Internetportal zu 30 Jahren Einheit freischalten. Da findet man die wichtigsten Daten auf einer Zeitleiste. www.euregeschichte.de

Was hat sich da im Verlauf der letzten 30 Jahre an der Bewertung der DDR verändert?

Ich denke, man relativiert jetzt besser. 1989/90 war ja der überwiegende Eindruck, da bricht etwas zusammen, was nicht lebensfähig war. Der „tolle“ Westen übernimmt das. Das sieht man heute sehr viel differenzierter. In unserem Onlineportal gibt es deshalb auch ein Kapitel darüber, wie der Osten den Westen verändert hat.

DDR-Bürger stehen in einem Wahllokal in Leipzig Schlange. Bei den ersten freien und demokratischen Wahlen in der DDR im März 1990 siegte ...
DDR-Bürger stehen in einem Wahllokal in Leipzig Schlange. Bei den ersten freien und demokratischen Wahlen in der DDR im März 1990 siegte die konservative „Allianz für Deutschland“. Das Bündnis der Parteien CDU, Deutsche Soziale Union (DSU) und Demokratischer Aufbruch (DA) verfehlte knapp die absolute Mehrheit. | Bild: Frank Kleefeldt

Geben Sie mal ein Beispiel.

Kinderbetreuung und Gleichberechtigung, zum Beispiel. Das war für die „Ossis“ ein Schock, als sie festgestellt haben, dass es im Westen zwar alles zu kaufen gibt, aber die gängige Rolle der Frau noch das Heimchen am Herd war. Da hat der Westen vom Osten einiges gelernt.

Der Tag der deutschen Einheit – löst das noch Gefühle aus bei den jungen Menschen?

Das können Sie von jungen Menschen nicht verlangen. Ich unterrichte Oberstufe, da sind die Schüler zwischen 15 und 19 Jahre alt. Die nehmen das zur Kenntnis, und wenn man ein schönes Video zeigt vom Jubel und den Freudentränen damals, dann können sie in etwa erahnen, was damals los war. Aber Sie können nicht erwarten, dass auch die Schüler in Tränen ausbrechen.

Riesenandrang auf die Ost-Berliner Deutsche Bank: Am 1. Juli 1990 wurde die Währungsunion vollzogen. Dabei gab es Verletzte, als die ...
Riesenandrang auf die Ost-Berliner Deutsche Bank: Am 1. Juli 1990 wurde die Währungsunion vollzogen. Dabei gab es Verletzte, als die Scheiben barsten. | Bild: Thomas Wattenberg

Wie begeistert man Schüler für das Thema Wende?

Mit Kontroversen und mit Anschaulichkeit. Zum Beispiel zeige ich ein historisches Video und blende dann zwei, drei Positionen zum Thema ein. Man kommt ins Gespräch und sieht, dass man den Vorgang so, aber auch ganz anders sehen kann. Vom kognitiven Konflikt kommt man dann zu den Inhalten, zum Beispiel vermittelt durch eine längere Quelle.

Welche Gedenkorte der deutsch-deutschen Geschichte sollte man besucht haben?

Das ist eine ewige Diskussion: Gerade wird ja auch in Bezug auf NS-Geschichte wieder darüber debattiert, ob alle Schüler ein KZ besucht haben müssen – das sehe ich nicht so. Wenn man es gut vorbereitet, kann das etwas bringen. Es kann aber auch furchtbar schiefgehen. Wenn junge Leute etwa im KZ Nazisprüche gelernt haben und nicht viel anderes.

Für die DDR- und die Nachwendegeschichte ist das auch noch nicht entschieden: Ist es Hohenschönhausen, Leipzigs Nikolaikirche, das Brandenburger Tor oder ein Ort, wo Dissidenten ihre ersten Versammlungen abgehalten haben?

Treffen in Strickjacken: Helmut Kohl (links) im Gepräch mit Michail Gorbatschow. Beim Arbeitsbesuch im Kaukasus wurden die Modalitäten ...
Treffen in Strickjacken: Helmut Kohl (links) im Gepräch mit Michail Gorbatschow. Beim Arbeitsbesuch im Kaukasus wurden die Modalitäten der Wiedervereinigung verhandelt. | Bild: dpa

Ist es wichtiger über die Antike Bescheid zu wissen oder über die DDR?

Historiker interessieren sich ja für den ganzen „Baum der Geschichte“. Und wir haben wenig Verständnis dafür, wenn uns von Lehrplänen vorgegeben wird, alles zu entrümpeln. Ich bin schon dafür, dass man den gesamten Baum im Blick behält – inklusive die Wurzeln.

Ein Schüler, der die attische Demokratie zumindest mal in Auszügen kennenlernt, wird verstehen, dass das schon seit über 2000 Jahren ein gewaltiges Ringen ist und dass viele Wege zur Demokratie führen.

Was ist für Sie als Geschichtslehrer die wichtigste Lehre aus der Wiedervereinigung?

Lehren aus der Geschichte? Da bin ich vorsichtig: Jeder zieht da ja seine eigenen Lehren.

Was für Sie persönlich die wichtigste Lehre?

Für mich ist das Faszinierende, dass nur wenige Tausend Dissidenten die Keimzelle waren für einen Systemumsturz. Daraus kann man etwas lernen über Bürgerbeteiligung. Ein scheinbar monolithisches System wird erschüttert. Die zweite Lehre ist: Dass man zwei Systeme sehr sorgsam zusammengießen muss. Es ging damals sehr schnell.

Vielleicht musste es auch schnell gehen, weil Gorbatschow eben für ein kurzes Zeitfenster den Weg freigemacht hat – und heute wissen wir ja, dass er gar nicht fest im Sattel saß. Vielleicht wäre die ganze Sache nicht möglich gewesen, wenn man fünf Jahre gewartet hätte. Man musste mit Galopp durch – und das hinterließ Schäden.