Es ist ein Pflichtbild. Matthias Ginter hält im Bauch des Europa Park-Stadions die Trophäe für den „Man of the match“ in Händen und versucht ein Lächeln. Doch, es ist ein Lächeln, allerdings ein gruseliges, als sei Halloween nicht erst am 31., sondern schon am 19. Oktober. Der 28-jährige Innenverteidiger des SC Freiburg hat eine geschwollene Nase und darüber eine Wunde.

Direkt zwischen den Augen hatte ihn nach 55 Minuten Teamkamerad Lukas Kübler mit dem Ellenbogen erwischt, sofort war Blut geflossen, sofort hatte Ginter behandelt werden müssen. Was der Fotograf nicht ins Bild bringt, ist der dick bandagierte Fuß des Heroen. Einen Ball hatte er mit Schmackes auf die Fußspitze bekommen, sich dabei das Gelenk verdreht und danach nicht mehr sprinten können. Aber jetzt ist das alles egal, Matthias Ginter verspürt wenig Schmerz, dafür tiefes Glück, er klagt nicht, er lächelt. Adrenalin sei Dank.

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Ja, dieses Foto mag banal sein, weil es gleichzeitig bestellt und gestellt ist. Aber es eben auch das Sinnbild des späten 2:1-Sieges des SC Freiburg im Pokalkrimi gegen den FC St. Pauli. Ohne Ginter wäre es nicht dazu gekommen.

Per Kopf in die Verlängerung

Kurzer Blick zurück: Der Abwehrspieler, der nicht mehr richtig laufen kann, agiert ab der 75. Minute als Mittelstürmer und köpft in der dritten Minute der Nachspielzeit den Ausgleich zum 0:1. Er quält sich durch die Verlängerung, verdrängt Schmerzen und verströmt Zuversicht. Und als in der 119. Minute der Eckball von Vincenzo Grifo an den Fünfmeterraum geflogen kommt, da verlängert Ginter per Kopf direkt auf den Schädel von Michael Gregoritsch, der nur noch einnicken muss. Ginters letzte Aktion ist ein Bocksprung auf den Rücken von Gregoritsch, verbunden mit Schreien im Endorphinrausch.

Christian Streich und der „Gintes“

Während Ginter den Fototermin bewältigt, sprechen andere über ihn. „Matze hat mich an Bastian Schweinsteiger im WM-Finale 2014 erinnert mit seiner Platzwunde. Er ist ein überragender Spieler und ein überragender Typ, unheimlich wichtig in der Kabine. Er verliert nie die Nerven, ist immer klar“, schwärmt Siegtorschütze Gregoritsch. Christian Streich schildert noch mal all die Malaisen, die Ginter erleiden musste, schüttelt ungläubig und tief berührt zugleich den Kopf und sagt: „Wie er sich durchgebissen hat, das können nicht viele Spieler.“

Der Trainer ist froh, dass Ginter im Sommer zurückgekehrt ist zum SC Freiburg. Er nennt ihn nicht „Matze“, wie Ginters Kumpels und die Teamkollegen, Streich nennt ihn „Gintes“ und sagt immer wieder mal „der Gintes isch was B‘sonderes“. Er weiß, wovon er spricht. Streich kennt Matthias Lukas Ginter, so steht‘s im Pass, schon seit gemeinsamen Zeiten in der Freiburger Fußballschule. Hier Streich, der Chef der Nachwuchsabteilung, da Ginter, der Hochbegabte. Sie gehen zusammen den Weg in den Profifußball. Streich wird Ende Dezember 2011 Trainer des Bundesligateams und nimmt den Gintes mit.

Ein Bild aus vergangenen Tagen: Matthias Ginter im Jahr 2012 im Dress des SC Freiburg.
Ein Bild aus vergangenen Tagen: Matthias Ginter im Jahr 2012 im Dress des SC Freiburg. | Bild: Hahne, Joachim

Am 21. Januar 2012, einem frostigen Samstag, kickt Halbzeit-Schlusslicht Freiburg erstmals mit Streich auf der Trainerbank gegen Augsburg. Es steht 0:0, als Streich nach 70 Minuten Ginter aufs Feld schickt. Der war zwei Tage zuvor 18 geworden, darf nun erstmalig Bundesligaluft schnuppern. Und dann geht alles rasant dahin und wird zum Startschuss einer tollen Geschichte – an diesem Tag und auch in der Zukunft.

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18 Minuten nach seiner Einwechslung erzielt Ginter per Rückwärtskopfball den 1:0-Siegtreffer für den Sport-Club. Der Erfolg leitet eine grandiose Aufholjagd der Südbadener zum Klassenerhalt ein, der „Gintes“ ist immer dabei und wird mir nichts, dir nichts zur Stammkraft. Im Frühjahr 2014 trägt der junge Bursche erstmals das Trikot der deutschen Nationalelf, im Sommer wechselt er zu Borussia Dortmund. Und nur fünfeinhalb Jahre nach dem frostigen Januartag anno 2012 stehen in der Vita des 23-Jährigen tolle Erfolge: Weltmeister 2014 in Brasilien, Supercup-Sieger 2014 und DFB-Pokalsieger 2017 mit Borussia Dortmund, Olympiasilber 2016 in Rio de Janeiro und Confed-Cup-Sieger 2017 in Russland.

Ein bodenständiger Typ

2017 wechselt Ginter zu Borussia Mönchengladbach und bestreitet dort bis Ende der vergangenen Saison 154 Pflichtspiele. Im Frühjahr 2022 rumort es dann in der Breisgauer Fußballszene. Der Matze, der Gintes, der Weltmeister, er komme zurück zum SC, heißt es. Klar, der 46-fache Nationalspieler ist ein bodenständiger Typ, er hat eine enge Verbindung zu seinen Eltern Rita und Thomas, er und seine Ehefrau Christina Raphaella haben im Südbadischen Hochzeit gefeiert und ein Haus gebaut in Matzes Heimatgemeinde March, wo es sich für die Familie gut leben lässt (Sohn Matteo kam am 21. Januar 2020 zur Welt und hat am gleichen Tag Geburtstag wie der Papa).

Matthias Ginter und seine Frau Christina.
Matthias Ginter und seine Frau Christina. | Bild: Caroline Seidel / dpa

Matthias Ginter hat eine Stiftung gegründet, die sich für Kinder und Jugendliche in Freiburg einsetzt. Und auch die Marcher wissen zu schätzen, was sie am bekannten Sohn der Gemeinde haben, 2021 gaben sie ihrem Sportplatz den Namen „Matthias-Ginter-Sportpark“. Letztes Puzzlestück: Der SC Freiburg hat sich für die Europa League qualifiziert. Alles zusammen machte es leicht für Matthias Ginter, zurückzukehren zu seinen Wurzeln. Wie zufrieden er mit seinem Entschluss ist, hat er nach seinen drei Toren, die er für den SC in dieser Saison erzielt hat, gezeigt: Sofort geht der Zeigefinger aufs Sport-Club-Emblem, so auch nach dem 1:1 gegen St. Pauli. Es ist keine Show, es ist echte Überzeugung.

Streich wusste früh, „dass der Gintes seinen Weg machen wird“. Wenn er ihm seinerzeit in der Fußballschule Anweisungen gab, ging der Bub gleich ans Werk. „Der hat nicht lang rumgemacht“, erinnert sich Streich, „sondern gesagt: okay, Trainer, geht klar!“