Eine halbe Minute Vorsprung. Mit Reifen, die nach 50 Runden praktisch blank sind. Auf einer immer noch nassen, stets tückischen Piste. Der 94. Formel-1-Sieg in der Karriere von Lewis Hamilton war einer der beeindruckendsten – und der bislang wichtigste. Er sichert dem Briten drei Rennen vor Saisonende den siebten Titel. Damit egalisiert er Michael Schumachers Bestmarke und steigt auf zum besten Fahrer der Grand-Prix-Historie. Ein Ausnahmekönner in einer Ausnahmesituation.

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Auf der Rutschbahn von Istanbul, die mit Lance Stroll einen Außenseiter auf die Pole-Position katapultiert hatte, war Hamiltons Mercedes kein Siegerauto: Bei nur zwölf Grad war es fast aussichtslos, Bremsen und Reifen auf die richtige Temperatur zu bringen. Der 14. Platz von Teamkollege Valtteri Bottas, dem theoretisch letzten verbliebenen Titelherausforderer, unterstreicht das. Das Schicksal des Finnen unterstreicht aber vor allem die Extraklasse Hamiltons. Ebenso wie der Rennverlauf von Max Verstappen, den viele schon als würdigen Nachfolger des Abo-Champions sehen. Dem Niederländer fehlte die Geduld, er fuhr zu aggressiv und unbeständig, wurde am Ende nur Sechster. Sebastian Vettel hingegen, der mit Red Bull am Anfang des vergangenen Jahrzehnts eine Hamilton-ähnliche Dominanz hingelegt hatte, frohlockte über seinen in der letzten Kurvenkombination herausgefahrenen dritten Platz: „Das war der Tag der Erfahrenen.“ Vettel war dann auch erster Gratulant am Cockpit von Hamilton.

Lewis Hamilton feiert vor seinem XXL-Konterfei den siebten WM-Titel in der Formel 1 – nach einer beeindruckenden Vorstellung in ...
Lewis Hamilton feiert vor seinem XXL-Konterfei den siebten WM-Titel in der Formel 1 – nach einer beeindruckenden Vorstellung in der Türkei. Bild: AFP | Bild: Murad Sezer

Der Siebenfache musste sich erstmal sammeln. Schon nach der Zieldurchfahrt im Grau der verlassenen Rennstrecke war es verdächtig still geblieben im Cockpit. Dann war nur ein lautes Schluchzen zu hören, erst langsam siegten himmelhochjauchzende Töne – der Kaiser-Jodler. Die Ingenieure von Mercedes waren ähnlich gerührt: „Was für eine Art, den Titel zu holen.“ Erst kurz vor der Einfahrt in die Boxengasse fand der Gelobte und Gerührte zurück zur Sprache: „Das hier ist für alle Kinder da draußen: Ihr könnt das Unmögliche schaffen!“ Lange blieb er noch im Siegerpfeil sitzen, legte dann die Hände auf den Sicherheitsbügel. Kaum hatte er sich herausgewunden, kehrte die Ur-Energie zurück, die in ihm steckt. Ein Sprung auf die Fahrzeughaube, beide Arme hochgerissen, die Finger in den grauen Himmel gestreckt: eine dominantere Pose ist kaum möglich: Hier steht der Koloss der Formel 1!

Champagnerdusche abgewehrt

Toto Wolff, nicht nur von der Hierarchie als Teamchef her der sportliche Ziehvater Hamiltons, sondern auch ein ihm im Geiste Verbündeter, fand es fantastisch, dabei zu zusehen, wie da rasende Renngeschichte gemacht wurde. Der Österreicher, der nun mit dem Champion in die Vertragsverhandlungen einsteigen kann, stieg ausnahmsweise mit aufs Podium. Ähnlich wie Hamilton ist er einer, der große Demut vor dem Mannschaftssport Formel 1 besitzt. Auch der Überflieger selbst vergaß seine Truppe nicht: „Es ist eine monumentale Reise, auf der wir uns befinden. Ich danke allen dafür, die mir die Gelegenheit dazu gegeben haben.“ Dann wies er kurz vor der britischen und deutschen Nationalhymne noch schnell Wolff an, seinen Anorak zurechtzurücken. Der ahnte, was folgen sollte, und wehrte die Champagnerdusche mit seiner Kapuze weitgehend ab.

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Noch ist die gemeinsame Erfolgsgeschichte nicht zu Ende, auch das hat dieser Triumph im Chaos von Istanbul gezeigt. Bauchgefühl, Coolness, Konsequenz – es ist eine Mischung aus vielen Talenten, die diesen Lewis Hamilton mit 35 in eine eigene Umlaufbahn als Fixstern befördert haben. Der alte Gegenspieler Nico Rosberg, der ihn als einziger in der Hybridära schlagen konnte, zollt entsprechend Beifall: „Das ist unglaublich, und absolut verdient. Es ist sicher eine der größten Leistungen in der Geschichte des Sports.“ Für Hamilton selbst bleibt der Größte Aller Zeiten aber immer noch Muhammad Ali, sein eigentliches Idol.

Hungrig wie ein Löwe

Nicht mehr von der Spitze zu verdrängen, das soll mehr als nur in dieser Saison gelten. Natürlich ist der Titelgewinn Nummer acht sein Ziel, die Möglichkeiten dazu hat er – und technisch ändert sich nicht viel in der Saison 2021. Doch es geht um mehr als nur weitere Bestmarken. „Lewis hat sich als Fahrer und auch als Mensch sehr entwickelt“, bescheinigt Toto Wolff, „das Rennen heute hat gezeigt, dass er immer noch hungrig wie ein Löwe ist.“

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Lewis Hamilton weiß, dass er die Plattform Motorsport und seine Erfolge weiterhin für Botschaften nutzen kann, die außerhalb der Piste liegen – sei es Nachhaltigkeit, die Diskriminierung von Farbigen, mehr Diversität in jeder Hinsicht: „Der Fahrertitel hat nicht unbedingt Auswirkungen auf das Leben der Menschen. Der Versuch, die Bedingungen für Menschen auf der ganzen Welt zu verbessern – gleiche Menschenrechte zu schaffen – das ist für mich das Wichtigste.“ Auch in dieser Hinsicht wird er Kämpfer bleiben. Die Formel 1 ist eine Formel Seins.