Es ist der Traum vieler junger Sportler, ihr großes Vorbild irgendwann mal kennenzulernen. Für die meisten bleibt es ein Traum, für einige wird ein Treffen vielleicht bei einer Autogrammstunde wahr – kurzer Smalltalk mit dem Idol inklusive. Mehr Glück hatte da Toni Lehr. „Fritz Walter hat bei uns übernachtet, als ich 14 war. Das war eine Riesensache für mich“, sagt der heute 89-jährige Hilzinger mit leuchtenden Augen.

Dass die deutsche Fußballlegende die Bäckerei von Lehrs Eltern 1948 als Schlafdomizil wählte, lag an guten Kontakten des FC Singen 04. Dessen Mitglied, der berühmte Jagdflieger Hermann Graf, schaffte es immer wieder, kurz nach dem zweiten Weltkrieg Topspieler für Freundschaftsspiele an den Hohentwiel zu locken. Da den Stars damals noch keine Luxus-Suiten für Auswärtsspiele zur Verfügung standen, nahm Fritz Walter gerne die Einladung der Familie Lehr an, im Zimmer des Singener Nachwuchsspielers Toni zu nächtigen.

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Auch wenn ein kleiner bis mittelgroßer Haken dabei war: Walter hatte seine Freundin Italia im Schlepptau mit dabei. Obwohl die Hochzeit der beiden schon beschlossene Sache war und wenig später auch vollzogen wurde, hatte Lehrs streng katholische Mutter der damaligen Sitten wegen zuerst ein bisschen Bauchweh, das unverheiratete Pärchen aufzunehmen. Ob es die Angst vor dem Getuschel in der Nachbarschaft war oder die Sorge, gegen den damals streng angewandten Kuppelei-Paragrafen zu verstoßen, spielt keine Rolle mehr. Am Ende hat es doch geklappt: Der Fritz und die Italia bekamen Lehrs Bett – und der junge Toni eine Erinnerung fürs Leben.

Der Dank von Fritz Walter an Toni Lehr auf einer Postkarte.
Der Dank von Fritz Walter an Toni Lehr auf einer Postkarte. | Bild: privat

„Der Fritz war ein toller Mensch“, erinnert sich Toni Lehr an den Kaiserslauterer. „Immer bescheiden, immer der Letzte, der gegangen ist, wenn Autogrammjäger da waren. Er hat nie jemanden stehen lassen“. Auch nicht als Weltmeister: Als die Helden von Bern auf der Heimfahrt mit dem Zug am 5. Juli 1954 kurz Station in Singen machten, war Toni Lehr natürlich auf dem Bahnsteig – und Fritz Walter am Fenster, gerne bereit für ein Schwätzchen mit dem jungen Mann, der ihm sein Bett überlassen hatte.

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Fritz Walter – als Fußballer und auch als Mensch ein Vorbild für den jungen Toni. Sein Lehr-Meister auf dem Rasen wurde allerdings später ein anderer deutscher Nationalspieler. Weniger bekannt als der große Fritz, aber nicht minder mit Talent gesegnet: Ernst Willimowski aus Oberschlesien, der zuerst für die polnische und später für die deutsche Auswahl Tore wie am Fließband schoss.

Ernst Willimowski.
Ernst Willimowski. | Bild: ullstein bild

Und für den FC Singen 04, bei dem Willimowski von 1950 bis 1951 spielte – zusammen mit Toni Lehr, der heute noch von dem exzentrischen Mann mit den roten Haaren und den Segelohren schwärmt. „Von ihm habe ich mir viel abgeschaut“, sagt Lehr über den damaligen Wunderstürmer, der bei der WM 1938 im polnischen Trikot vier Tore gegen Brasilien erzielte und der Legende nach sein Ballgefühl im linken Fuß einer sechsten Zehe zu verdanken hatte. Und der den Sinn des Lebens manchmal auf dem Fußballplatz fand, aber leider allzu oft auch auf dem Grund eines Schnapsglases gesucht haben soll.

Das Spiel seines Lebens

Mit Schlitzohr Willimowski als Mitspieler bestritt Toni Lehr am 22. April 1951 das Spiel seines Lebens. In der Oberliga Süd, der damals höchsten Spielklasse in Deutschland, war der traditionsreiche 1. FC Nürnberg Gegner. Fast 17 000 Fans drängten sich im Singener Waldeckstadion, viele auch, um den Nürnberger Star Max Morlock zu sehen, der drei Jahre später im WM-Endspiel in Bern den 1:2-Anschlusstreffer gegen Ungarn erzielen sollte. „Das war ein wahnsinniges Erlebnis, vor so einer Kulisse zu spielen“, erinnert sich Lehr an den Höhepunkt in seiner damals noch jungen Karriere.

Zu Gast bei Sepp Herberger (links): Toni Lehr (oben rechts) im DFB-Trainingslager 1951.
Zu Gast bei Sepp Herberger (links): Toni Lehr (oben rechts) im DFB-Trainingslager 1951. | Bild: privat

Aber das Jahr 1951 hatte noch mehr zu bieten für Toni Lehr. Bundestrainer Sepp Herberger war auf den technisch versierten Mittelfeldspieler aufmerksam geworden und lud ihn nach München zu einem Lehrgang in der Sportschule Grünwald ein. „Sportlich war das eine tolle Erfahrung“, sagt Lehr und feixt: „Ich war vielleicht nicht der mit dem größten Talent dort. Aber dafür der Schönste damals!“ Ein Haken war jedoch dabei: Herberger, genannt der Chef, war der festen Überzeugung, dass zuviel Trinken den Sportlern schaden würde. „Morgens gab es einen Kaffee, zum Mittagessen dann ein kleines Gläschen Wasser. Das war‘s“, erinnert sich Lehr an die Dürre auf den Grünwalder Sportanlagen, wo Herbergers Schützlinge bei größter Hitze ihr Können zeigen mussten. „Abends haben wir dann das Duschwasser gesoffen“, sagt Lehr trocken und lächelt sich ein paar Jahre jünger.

Dass aus der Karriere als Nationalspieler nichts geworden ist, wenige Jahre vor dem Wunder von Bern, hat ihn nicht verbittern lassen. „Was soll‘s“, sagt Lehr und zuckt mit den Schultern, „ich hatte eine tolle Zeit als Fußballer. Und nur das zählt!“