Damals, als Gino noch lebte, als er noch ein Junge war, fuhr Sandra Mäder mit ihm und seinen drei Schwestern mit dem Zug zum Eichhörnchenwald nach Davos. Dort angekommen wagte sich aber keines der possierlichen Tierchen hervor. „Seither wurde ich immer gefoppt nach dem Motto: Ja, die Mami sucht Eichhörnchen auf dem Land, dabei gibt es die doch überall in der Stadt.“ Sie schmunzelt bei der Erinnerung.
Es ist ein Donnerstagmorgen, der letzte im August. Im „B5“, einem Café in Burgdorf nahe Bern, sind die meisten Plätze belegt. Sandra Mäder trägt ein schwarzes Jackett, darunter eine weiße Bluse. Im Hintergrund läuft Musik, die kaum durch das Stimmengewirr dringt.
Die 51-Jährige ist im Außendienst bei einer Versicherung tätig. „Es tut mir gut“, sagt sie, rührt mit dem Löffel im Cappuccino, und beginnt von den Tagen zu erzählen, an denen ihr Sohn beim größten Radrennen der Schweiz, der Tour de Suisse, tödlich verunglückte.
Abfahrt vom Albula-Pass
Gino Mäder galt als Kletterspezialist. Zu seinen größten Erfolgen gehörten Etappensiege beim Giro d‘Italia und bei der Tour de Suisse 2021. In diesem Sommer wollte sich der Fahrer des Teams Bahrain Victorious erneut bei der Schweiz-Rundfahrt beweisen und damit für die Tour de France empfehlen.
Auf der Abfahrt vom Albula-Pass zum Zielort La Punt kommt er zu Fall. Warum genau, ist bis heute unklar. Vielleicht lag ein Stein auf der Straße, vielleicht war es ein Fahrfehler – welche Rolle spielt das schon. Gino stürzt in eine Schlucht, beim Eintreffen der Rettungskräfte liegt er reglos im Wasser.

Er muss wiederbelebt werden und wird in eine Klinik nach Chur geflogen. Die Schweiz, die Radsportszene weltweit bangt um das Leben des jungen Mannes. „Ich hatte an dem Tag ein Essen, ein Event, zu dem die besten Verkäufer der Krankenkasse, für die ich da noch gearbeitet habe, geladen waren“, erzählt Sandra Mäder.
Am Tag zuvor hatte ihr Urlaub begonnen. „Ich bin zur Tour de Suisse gefahren, habe mit Gino auch wegen meines Termins gesprochen, ihn gefragt, ob ich den nicht besser absagen sollte“, erinnert sie sich. „Er meinte aber, ich solle da hingehen, das hätte ich mir schließlich verdient.“
Ein Tag mit Vorahnungen
„Ob Sie mir das glauben oder nicht, den ganzen Tag über war ich nervös. Ich wusste gar nicht weshalb. Und dann hat mich noch einer gefragt, ob Gino bei der Tour de France dabei sein werde. Und ich habe geantwortet, dass man das nie genau wissen könne. Ein Sturz – und alles kann vorbei sein. Das hab ich gesagt.“
Sie fährt heim, macht den Fernseher an, verfolgt die Etappe, macht den Haushalt nebenher. Glaubt ihren Sohn gesehen zu haben, wie er durchs Ziel fährt. „Dann bekam ich die erste SMS-Nachricht mit der Frage, wie es Gino gehe.“ Sie wundert sich, denkt sich, dass etwas Rückstand auf die Spitze ja noch kein Grund sei, dass es ihrem Sohn schlecht gehen müsse. Sie geht noch einmal kurz aus dem Haus.
Was in den nächsten Minuten folgt, ist kaum zu beschreiben.
Ihr Ex-Mann, Ginos Papa, ruft an: „Fahr sofort heim und ruf mich an.“
Sie: „Was ist los? Ist was mit Gino?“
„Fahr heim, ruf mich an.“
Die Schocknachricht
Ginos Schwester Lisa hat inzwischen vom Unglück aus den Nachrichten erfahren. Das Telefon steht nicht mehr still. Der Teamarzt bittet um dringenden Rückruf, erzählt dem Vater vom schweren Sturz des Sohnes. Dann meldet sich Ginos Freundin Meret, sagt, dass die Ärzte sich bei ihr gemeldet hätten und dass die Familie so schnell wie möglich ins Krankenhaus nach Chur kommen soll. Die Mediziner wollen am Telefon keine weiteren Auskünfte erteilen. „Da war mir klar, dass es nur noch darum ging, ob die Maschinen abgestellt werden oder nicht.“
Knapp drei Monate ist das nun her. Im „B5“ ist der Cappuccino längst kalt geworden. Sandra Mäder hat seither mit vielen Menschen Gespräche geführt, die auch ein Kind verloren haben. Sie bekommt professionelle Hilfe, um mit dem Schmerz klar zu kommen. Sie spricht deutlich, irgendwann kommen dann doch Tränen. Natürlich.
Schonungslose Diagnose
In Chur angekommen, stellen sich sieben Ärzte vor, doch bevor die Familie mehr erfährt, darf die Mama zu ihrem Sohn. Der hat einen Schnitt oberhalb der Wange, viel mehr sichtbare Spuren hat der Sturz nicht hinterlassen. Der Schein trügt. Wenig später folgt die schonungslose Diagnose. Die Kopfverletzungen seien zu groß, niemand könne Gino mehr helfen. Man werde die Medikamente absetzen und dann nach zwölf Stunden Tests machen, um zu sehen, ob noch Hirntätigkeit vorhanden sei.
Und dann? „Die Optionen waren schnell klar.“ Sofern Hirntätigkeit vorhanden wäre, müssten die Maschinen abgestellt werden. „Hätte er dann nicht selbstständig geatmet, wäre er erstickt.“ Sollte er atmen, hätte keiner sagen können, ob er das für eine Minute, eine Stunde, einen Tag oder zehn Jahre gemacht hätte. „Aber der Arzt sagte mir, dass Gino nie mehr ‚Mami‘ sagen wird können, dass er so wie in dem Moment für immer im Bett liegen bleiben würde, dass er nie mehr sprechen oder laufen wird können.“ Die beste Variante, so brutal das auch sei, wäre, dass er gehen dürfe, dass eben keine Hirntätigkeit mehr nachzuweisen sei.
Die ganze Familie ist inzwischen im Krankenhaus angekommen. Fans in der ganzen Schweiz bangen um den jungen Mann, der so gar nicht in das Radfahrer-Klischee passen wollte.
Gino Mäder war der etwas andere Radprofi
Radsportler leiden selten unter einem geringen Selbstbewusstsein. Oftmals ist das Gegenteil der Fall. Wer sich mit 100 Stundenkilometern in Abfahrten stürzt, wer im Zielsprint Lenker an Lenker mit der Konkurrenz auf engstem Raum um Zentimeter kämpft, hat eine Brust, breiter als mancher Balkon in der Züricher Innenstadt. Gino Mäder war da anders. Kein Lautsprecher, eher einer, der sich selbst nicht so wichtig nahm. Der statt Romanen auch mal Werke von Goethe las, der Mathematik liebte und sich für den Umweltschutz engagierte.

„Er war beliebt“, weiß Sandra Mäder, die 1988 zum Radsport kam und bei einem Trainingslager ihre späteren Mann Andreas kennenlernte. Velo fahren, sagt man in der Schweiz. Die Mäders haben nur ein Auto, das der Papa für die Arbeit benötigt. Mama Sandra packt zwei Kinder daher in den Velo-Anhänger, eines auf den Kindersitz am Sattel, die älteste Tochter Laura muss selber fahren.
Und manche Touren haben eine Länge von 50 Kilometern, sodass sich Laura (heute 29), Jana (28), Lisa (25) und Gino beim Treten abwechseln. Alltag bei den Mäders. „Radfahren, das ist auch ein Teil von Umweltschutz. Das war bei uns immer ein Thema“, sagt sie. Noch das kleinste Zipfelchen Papier oder den Eisstil habe sie ihre Kinder aufheben und in den nächsten Kübel befördern lassen. Das prägte den Nachwuchs.
Engagement für die Umwelt
Gino engagiert sich für den Schutz der Schweizer Gletscher, spendet Geld, nimmt einen Hund aus einem Tierheim bei sich auf. Er sieht sich als Gino, nur als Gino, einen Radprofi von vielleicht 1000 weltweit. „Und 300 davon sind besser als ich“, fügte er dann noch hinzu. Eine Untertreibung, denn längst gilt er als Versprechen an die Schweizer Radsport-Zukunft.
Am Morgen nach dem Sturz werden die Tests gemacht. Die Ärzte können keine Hirntätigkeit mehr feststellen.
Um 11.24 Uhr wird Gino Mäder für tot erklärt. Wie viele Tränen in Chur fließen, wie schrecklich diese Stunden gewesen sein müssen, es mag sich jeder selbst vorstellen.
Die Familie informiert das Team und dieses dann die Organisatoren der Tour de Suisse. An ein Rennen ist nicht mehr zu denken, lediglich die letzten 30 Kilometer werden als Trauerfahrt gemeinsam absolviert. Familie Mäder geht zum Ziel, will sich verabschieden. Es sind Szenen, die schwer zu beschreiben sind. Gino ist tot. Einfach nicht mehr da.
Sein Körper wird in diesen Stunden noch künstlich versorgt, die Organe sollen gespendet werden. „Welche genau, das wissen wir nicht. Wir haben da aber keine Einschränkungen gemacht, das wollte Gino so.“ In wenigen Tagen wird sie erfahren, wie viele Menschen vom Tod ihres Sohnes profitierten, wodurch „zumindest noch etwas Sinn in seinem Sterben liegt“.
Wer hat Schuld am Unfall?
Aber hätte dieser Tod nicht verhindert werden können? Müssen solche Abfahrten sein? Hätte die Stelle nicht besser gesichert werden müssen? Rolf Aldag, Sportlicher Leiter beim deutschen Team Bora-hansgrohe, bemühte sich noch vor der Todesnachricht um Sachlichkeit. „Generell ist uns allen bewusst, was wir für ein Risiko eingehen auf den Straßen. Wir haben eben keine Fangzäune oder Kiesbetten wie in der Formel 1“, sagte der Ex-Profi. Sandra Mäder sieht das ähnlich: „Da hat keiner Schuld. Bergauf, bergab – das gehört zu Radrennen dazu“, sagt sie.
Aber der Radsport ist doch gefährlicher als andere Sportarten? „Ich arbeite im Außendienst, ich lebe auch gefährlich. Ich kann meinen Fahrstil im Auto anpassen, aber ich kann andere Leute nicht erziehen.“ Außerdem sei das Risiko, bei einem Training zu verunglücken, viel größer als bei einem Rennen. „Ich glaube, dass es einfach sein Schicksal war, an diesem Tag zu sterben.“ Aber ja, einige Veranstalter und Fahrer seien nun sensibilisiert, hätten Strecken angepasst, manche ihre Risikobereitschaft hinterfragt.
Verein sammelt Spenden
Wie geht man mit all dem um? „Die Familie ist zusammengerückt“, sagt Sandra Mäder. Sie haben einen Verein gegründet, der Spenden sammeln soll, für Projekte, die Gino am Herzen lagen. „Ride for Gino“ heißt die Initiative, die auf Instagram und Facebook zu finden ist. Aufkleber wurden mit dem Slogan gedruckt, außerdem rosa Armbänder, die Farbe soll an das Spitzentrikot beim Giro d‘Italia erinnern, jenes Rennen, das Gino unbedingt einmal gewinnen wollte. Wie Marco Pantani, sein Idol, das auch viel zu früh starb.

Die Erinnerung an ihren Sohn kann sie so teilen, manche Gedanken kommen nach und nach aus ihr heraus. Zwei Tage nach Ginos Tod besuchte sie mit einer Freundin und deren Mann die Unfallstelle am Albula-Pass. Sie fand noch Teile von Ginos Helm, sammelte alles auf, fühlte sich ihrem verstorbenen Sohn „sehr nah an diesem Ort“.
Dann wollte sie heimfahren. „Und dann lief mir dieses Eichhörnchen vors Auto, einfach so. Es stoppte, sah mich einen Augenblick an, und zog dann weiter.“ Manche Begleitung sieht man eben nicht, obwohl sie doch da ist.
Ride for Gino.