Die Anfänge, Giulia Gwinn erinnert sich noch mit einigem Unbehagen, waren nicht einfach. Als kleines Kind am Bodensee wollte auch sie Fußball spielen. „Alle standen auf der Liste und bei mir – ich war das einzige Mädchen – stand nicht mal mein Name. Ich wurde nicht einmal nach meinem Namen gefragt, sondern da stand einfach nur ‚das Mädchen‘.“

Das sei damals, erzählt die Kapitänin der deutschen Frauen-Nationalmannschaft in der ARD-Doku „Shootingstars“, „ein Schlag ins Gesicht“ gewesen. Und eine gewisse Geringschätzung war auch noch zu spüren, als sie mal von Moderator Thomas Gottschalk in der Sendung „Wetten, dass…“ als „Giuliana“ Gwinn begrüßt wurde. War nicht ganz so schlimm. Hatten die Mitspielerinnen vom FC Bayern etwas, womit sie eine der weltbesten Verteidigerinnen aufziehen konnten.

Spiele in der Schweiz – praktisch vor der Haustür

Heute ist ihr Name (fast) jedem Fußballfan geläufig. Dass sie am Tag des Eröffnungsspiels der Frauen-EM ihren 26. Geburtstag feierte – wozu die Mitspielerinnen am Mittwoch im Sportzentrum Buchlern von Zürich klatschten und sangen – sollte vielleicht so sein: Die Vorfreude, von der Gwinn gleich bei der ersten Pressekonferenz mit leuchtenden Augen erzählte, ergibt sich bei ihr von selbst: Die 63-fache Nationalspielerin spielt die EM-Gruppenspiele gegen Polen in St. Gallen (Freitag 21 Uhr), gegen Dänemark in Basel (8. Juli/18 Uhr) und Schweden in Zürich (12. Juli/21 Uhr) praktisch vor der Haustür.

Ihre Eltern würden wieder mit dem Camper anreisen. „Ich freue mich, dass meine Brüder, mein Freund da sein werden.“ Zur Erinnerung: Gabi und Florian Gwinn hatten bei der EM 2022 in England mit ihren schwarz-rot-goldenen Perücken für Aufsehen gesorgt. Das Ehepaar aus Ettenkirch, das zu Friedrichshafen (Bodenseekreis) gehört, erlangte fast so viel Bekanntheit wie die Verteidigerin des Vize-Europameisters, die auch keine Scheu hat, ihren Lebensgefährten Constantin Frommann zu zeigen. Über ihre Brüder Manu und Leon sowie Schwester Jessi redet sie offen, wenn sie darauf angesprochen wird.

Gabi und Florian Gwinn, die Eltern der Nationalspielerin Giulia Gwinn, sitzen im Publikum bei der Vorstellung ihres Buches „Write your ...
Gabi und Florian Gwinn, die Eltern der Nationalspielerin Giulia Gwinn, sitzen im Publikum bei der Vorstellung ihres Buches „Write your own Story – Mein Weg vom Bolzplatz in die Weltspitze“. | Bild: Felix Hörhager, dpa

Zuerst ging sie heimlich ins Training

Jetzt sind die Eltern begeistert, in den Anfängen ihrer Fußballkarriere musste Gwinn auch familiäre Widerstände überwinden. Als die in Tettnang geborene Giulia nämlich kicken wollte, verdrehte die Mutter die Augen. Wegen der beiden älteren Brüder verbrachte sie ohnehin schon jedes Wochenende auf dem Fußballplatz. „Sie meinte dann zu mir, sie wolle nicht, dass ich ebenfalls Fußball spiele.“

Also probierte sie erst mal andere Sportarten aus, aber nichts hat ihr Spaß gemacht. „Und dann bin ich zum ersten Fußballtraining gegangen. Ich habe gesagt, ich würde zu einer Freundin gehen, bin aber mit normalen Turnschuhen, weil ich keine Ausstattung hatte, zum Training der Jungs.“ Als die Tochter überglücklich heimkam, konnte die Mutter nicht mehr Nein sagen. Heute ist sie riesig stolz auf die Sympathieträgerin.

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Gwinn hat eine charmante Art, ohne gekünstelt zu sein. Sie kann ihre Haltung vertreten, ohne zu belehren. Ihr Motto: „Wer sich wegduckt, bewirkt nichts. Der Frauenfußball wäre heute nicht da, wo er ist, wenn nicht viele vor uns den Mut gehabt hätten, laut zu sein, ihre Meinung zu äußern – auch wenn das mal nicht gut ankommt.“

Wobei: Ganz so dick sind die Bretter gar nicht mehr, die deutsche Fußballerinnen bohren müssen. Ihnen ist die Aufmerksamkeit der nächsten Wochen gewiss. ARD und ZDF werden das Event vor schönen Alpenkulissen auf allen Kanälen schon aus eigenem Interesse befeuern. Beim EM-Endspiel gegen England schalteten 2022 fast 18 Millionen Menschen ein. Kein einziges Spiel der Männer-WM im selben Jahr in Katar erreichte eine solche Quote.

Als ihr Kreuzband riss, weinten die Mitspielerinnen

Bei jenem Turnier war Gwinn eine der Besten. Immer anspielbereit, immer aktiv. Ihre Präsenz und ihre Physis beeindruckten, obgleich nach der WM 2019 in Frankreich – als sie zur besten jungen Spielerin des Turniers gekürt wurde – in einem EM-Qualifikationsspiel gegen Irland im Herbst 2020 das Kreuzband im rechten Knie gerissen war.

Während eines Trainings mit der deutschen Nationalmannschaft ging im Herbst 2022 auch das Kreuzband im linken Knie kaputt. Es gab damals mehrere Mitspielerinnen, die auf dem Platz Tränen vergossen. Die damalige Bundestrainerin Martina Voss-Tecklenburg brach das Training sofort ab.

Und dann rief Uli Hoeneß an

Die lange Leidenszeit hat die Spielerin vom FC Bayern – dorthin war sie 2019 vom SC Freiburg gewechselt – in ihrem Buch „Write your own story – mein Weg vom Bolzplatz in die Weltspitze“ beschrieben. In einem Interview mit dem Autor Julien Wolff berichtete sie, wer sie damals kontaktierte. „Ich lag im Krankenhaus nach meinem neuerlichen Kreuzbandriss, wachte gerade aus der OP auf. Da kam ein Anruf – anonym. Es war Uli Hoeneß, der mir sagen wollte, dass der ganze FC Bayern hinter mir steht und ich mich immer bei ihm melden kann. Er hätte das nicht machen müssen. Umso mehr hat es mir bedeutet.“

Ihr Buch soll in erster Linie inspirieren. Gleich im ersten Kapitel richtet sich an „kleine und große Träumerinnen in dieser Welt.“ Mit sechs Jahren hatte sie demnach aufgeschrieben, dass sie Fußballerin werden will. „15 Jahre später ist mir das wieder in die Hände gefallen – und da hat sich gezeigt: Was man als kleines Kind träumt, kann Wirklichkeit werden.“

Popularität schließt Höflichkeit nicht aus

Dass sie es nach den schweren Verletzungen geschafft hat, hat einerseits Selbstvertrauen gestärkt, andererseits auch Demut gelehrt. Als Gwinn im Trainingslager im Verliererteam stand, schleppte sie sofort das Trainingstor vom Platz des Adi-Dassler-Stadions. Und als noch Wünsche für den Fanclub Nationalmannschaft zu erfüllen waren, begrüßte sie die wartenden Anhänger mit netten Worten.

Popularität schließt Höflichkeit nicht aus: „Man macht ein Bild oder gibt ein Autogramm – das ist eigentlich immer ein netter Austausch. Ich sehe das immer noch als große Wertschätzung. Ich glaube nicht, dass es so krass ist wie bei den Männern, die sich ja gar nicht mehr draußen bewegen können.“

Giulia Gwinn posiert nach dem Training für ein Selfie mit einem Fan.
Giulia Gwinn posiert nach dem Training für ein Selfie mit einem Fan. | Bild: Daniel Löb, dpa

Sie ist davon überzeugt, dass zumindest bei ihr der Spagat gelingt. „Ich bin jetzt Teil der großen Fußballwelt. Trotzdem will ich mir diese Leichtigkeit, dieses Wilde erhalten. Eine gute Mischung aus Disziplin, Fokus – und eben auch Unbekümmertheit.“ Sie hatte mit eingefädelt, dass Wolfgang Petry im Trainingslager aufschlug. Und sie war mittendrin, dass jetzt sogar eine Turnierhymne folgt. Zum Hit „Verlieben, verloren, vergessen, verzeih‘n“ hätten alle mitgesungen, sagte Gwinn und lachte: „Ich glaube, da kann sich jeder drauf freuen, was da für Engelsstimmen herausgekommen sind.“

Den Ton setzt neuerdings sie. Zwar hatte Bundestrainer Christian Wück nach Amtsübernahme im Herbst vergangenen Jahres einige Monate offen gelassen, wer unter ihm die Binde bekommt, doch die Nummer sieben war die logische Wahl.

120.000 Euro gibt es für den Titel

Bei der Quartierauswahl hat sie gleich mitgeredet, um einen Reinfall wie bei der WM 2023 in der australischen Einöde in Wyong zu vermeiden: Diesmal ist es nicht weit nach Zürich. „Es ist nicht förderlich, wenn man vier Wochen bei einem Turnier abgeschottet ist. Es ist wichtig, dass wir in der freien Zeit auch einfach mal rausgehen, bisschen bummeln oder einen Kaffee trinken können.“ Bei den Prämienverhandlungen musste sie gar nicht viel tun, weil der DFB von sich aus 120.000 Euro für den Titel anbot. Doppelt so viel wie 2022.

Gwinn will das Team anders führen als ihre Vorgängerin Alexandra Popp. Ein bisschen sanfter, denn so viele Ecken und Kanten bietet sie nicht. Dafür geht sie konstruktiver vor. „Wir haben eine Mannschaft, in der sich jeder öffnen kann. Dann geht ganz viel über das Zwischenmenschliche.“ Wenn man drüber spreche, könne man viel aus der Welt schaffen. Ihr Credo: Kommunikation auf Augenhöhe.

Sjoeke Nüsken (obere Reihe, l-r), Sara Däbritz, Giulia Gwinn, Janina Minge und Kathrin Hendrich machen sich bereit fürs Gruppenfoto.
Sjoeke Nüsken (obere Reihe, l-r), Sara Däbritz, Giulia Gwinn, Janina Minge und Kathrin Hendrich machen sich bereit fürs Gruppenfoto. | Bild: Sebastian Gollnow, dpa

Elf Elfmeter ohne mit der Wimper zu zucken

Einen Harmoniemenschen wie sie hat es besonders berührt, wie die Spielerinnen am Montag vom Teammanagement empfangen worden sind. Man habe „Bilder von dem Weg aus den U-Mannschaften“ auf den Zimmern vorgefunden, dazu „Briefe von unseren Liebsten – so etwas sieht und liest man gerne.“ Auf dem Platz belegt sie ihr Verantwortungsgefühl, in dem sie bislang elf Elfmeter ihrer Profikarriere verwandelt hat ohne mit der Wimper zu zucken.

Die stellvertretende Spielführerin Janina Minge sagt, Gwinn sei zwar „nicht die Lauteste auf dem Platz, aber Giulia geht durch ihre Spielweise voran. Sie will, dass sich alle wohlfühlen.“ Entstanden sei jetzt „ein eingeschweißter Haufen“ – urteilte die Kapitänin selbst. Jetzt muss nur noch die Bestätigung folgen, wenn endlich der Ball rollt. Eines ist klar: Die Anführerin vom Bodensee will die Schweiz erst verlassen, wenn am 27. Juli im ausverkauften St. Jakob-Park von Basel das Finale gespielt ist.