Dass Nicole Razavi da ist, wo sie gerade ist, hat die 56-Jährige einem ziemlich verdrießlichen Umstand zu verdanken: In Deutschland, aber besonders in Baden-Württemberg, ist der Immobilienmarkt aus den Fugen geraten. Seit gut einem Jahrzehnt steigen die Preise für Bauland, Häuser und Wohnungen. In manchen Regionen müssen Käufer jedes Jahr zweistellige Aufschläge in Kauf nehmen, wenn sie Eigentum erwerben wollen. Und bei den Mieten sieht es ähnlich aus. 16 der 30 teuersten deutschen Miet-Metropolen liegen zwischen Wertheim und Konstanz.
665 Millionen Euro in der Kriegskasse
Keine Frage, beim Thema Wohnen ist Feuer unterm Dach – und Nicole Razavi soll es löschen. Seit nicht einmal einem Jahr ist sie Bau-Ministerin in Baden-Württemberg. Erstmals in der jüngeren Landesgeschichte hat das Bau-Ressort ein eigenes Ministerium erhalten, mit eigenen Fachleuten. Fast 140 Beamte sind Razavi im Ministerium direkt unterstellt. Rund 665 Millionen Euro schwer ist ihre Kriegskasse. Geld, mit dem sie die Landesentwicklung vorantreiben, die Wohnungsnot lindern und Häuslebauern, aber auch ansiedlungswilligen Unternehmen wieder eine Perspektive aufzeigen soll.
An diesem Tag sitzt sie in der SÜDKURIER-Redaktion in Konstanz und versucht, die Lage einzuordnen. „Bezahlbarer Wohnraum ist die soziale Frage unserer Zeit“, sagt Razavi, die seit 2006 für die CDU im baden-württembergischen Landtag ist und sich ihre Meriten anfangs mit Infrastrukturthemen und in der Verkehrspolitik verdiente. Die Menschen wünschten sich in zunehmendem Maß Eigenheime. Das müsse auch weiter möglich und bezahlbar bleiben, sagt sie.
Priorität auf bezahlbarem Wohnraum
Die Ministerin, eine Studierte Anglistin, Politologin und Sportwissenschaftlerin, die ihre Karriere an einem Stuttgarter Wirtschaftsgymnasium begann, hat in ihrem Leben einiges gesehen. Geboren ist sie in Hongkong, wo ihr persisch stämmiger Vater, ein selbstständiger Textil-Ingenieur, beruflich Station machte. Schon als Kind habe sie „Einblicke in viele Kulturen“ erhalten, sagte sie einmal. Vielleicht ist das auch ein Grund, warum sie weiß, wie wichtig es ist, ein echtes Zuhause zu haben.
Darum treibt es sie um zu sehen, dass sich angesichts der aktuellen Preiskrise auf dem Immobilienmarkt immer weniger Menschen eine eigene Bleibe leisten können oder zumindest größere finanzielle Risiken in Kauf nehmen müssen als früher. „Was in den letzten Monaten passiert ist, ist schon krass“, sagt Razavi, die im beschaulichen Ebersbach an der Fils zur Schule gegangen ist. Was sie meint, sind neben den explodierenden Immobilienpreisen teils exorbitante Steigerungen der Baukosten.
Allein im vergangenen Jahr ist es um sechs Prozent teurer geworden, ein Haus zu errichten. Das ist der höchste Anstieg seit zwei Jahrzehnten. Um bis zu 90 Prozent verteuerten sich Baustoffe wie Konstruktionshölzer, Dachlatten oder Eisenmatten im Vergleich zur Vor-Pandemiezeit. Und in diesem Jahr geht der Preistrend weiter nach oben.
Tempo beim Bau
Nicht nur für die Häuslebauer und die Wohnungswirtschaft, sondern auch für Razavis Ministerium sei das „ein Riesenproblem“, wie die Ministerin sagt. Denn: Alles was den Neubau von Häusern und Wohnungen erschwert, bremst auch die Ambitionen der ehrgeizigen Ministerin aus. Immerhin hat sie sich auf die Fahnen geschrieben, neuen Wohnraum im Rekordtempo bereit zu stellen.

Und daher kämpft sie gerade an verschiedenen Fronten. Mit fast 400 Millionen Euro steckt ihr Haus dieses Jahr einen Rekordbetrag in die Förderung des Sozialwohnungsbaus. Mit 50 zusätzlichen Millionen aus einem neuen Topf werden alternative Wohnformen wie etwa Wohngemeinschaften bezuschusst, für die sich auch immer mehr Senioren interessieren. Und um eines der Hauptprobleme beim Wohnungsbau – die Flächenknappheit – anzugehen, werden Millionen Euro an die Kommunen ausgeschüttet. Mit dem Staatsgeld sollen die finanzschwachen Städte und Gemeinden Grundstücke aufkaufen, um auf ihnen bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.
Zu wenig günstige Wohnungen
Ob das ausreicht? Während die Ministerin jüngst im Landtag eine Trendwende im Sozialwohnungsbau voraussagte, ist die Opposition kritisch. Den 2000 neuen Wohnungen mit Sozialbindung, die Razavi für sich verbuchen kann, hält die Landes-SPD einen Bedarf von bis zu 6000 staatlich geförderten Wohneinheiten pro Jahr entgegen. Eher verwalte Razavi den Mangel, als eine Wohnraumoffensive vom Zaun zu brechen, so die Opposition jüngst.
Widersprüche gegen Bauvorhaben könnten eingeschränkt werden
Die Ministerin ist Realist genug, um zumindest anzuerkennen, dass die bisherigen Anstrengungen nicht ausreichen, alle Herausforderung zu meistern. Angesichts der Milliardensummen, die im Bausektor nötig seien, „können wir als Land allein nicht das große Rad drehen“, sagt sie beim SÜDKURIER-Redaktionsbesuch. Es brauche auch die Unterstützung des Bundes sowie kluge Anreize, um privates Kapital in die richtige Richtung zu lenken. „Und wir müssen Geschwindigkeit aufnehmen“, sagt sie. Dazu will sie Genehmigungsprozesse durchdigitalisieren und an einem gesellschaftlichen Konsens arbeiten, dass neuer Wohnraum einfach nötig ist. Im Zweifel müsse man aber auch prüfen, Widerspruchsverfahren gegen Bauprojekte zu verkürzen, so die Ministerin.

Alles auf Neu drehen will Razavi in einem anderen Punkt. In der Bauministerkonferenz (BMK) bestehe Konsens, „dass die bisherige Form der energetischen Förderung von Wohngebäuden reformiert werden muss“, sagte sie. Seit Anfang diesen Jahres ist Razavi BMK-Vorsitzende. „Wir müssen weg von einer Fokussierung auf die Dämmung, sowohl bei Sanierungen, als auch bei Neubauten“, sagte sie. Aufwand und Ertrag gerieten hier zusehends aus dem Gleichgewicht, beispielsweise weil die notwendige Technik immer teurer werde und immer schwerer zu handhaben sei.
Systemwechsel bei der Förderung energieeffizienter Gebäude
„Ich will einen Systemwechsel hin zu einer Gesamtbetrachtung der Treibhausgasemissionen von Gebäuden über ihren gesamten Lebenszyklus hinweg“, sagte Razavi. „Das fängt beim Bau an und endet bei Abriss und Entsorgung Jahrzehnte später.“
Vor gut zwei Wochen hatte das Bundeswirtschaftsministerium Teile der KfW-Förderung für Neubauten gestoppt, wenig später Teile der Mittel, aber wieder freigegeben. Razavi kritisierte das. „Ein solcher Paradigmenwechsel braucht Zeit, das sollte man nicht übers Knie brechen“, sagte die Ministerin.