Anderen Menschen zu helfen, gehört für den Münchner Anästhesie-Oberarzt Andreas Schießl, wie für alle, die auf Intensivstationen und in der Notfallmedizin arbeiten, zum Alltag. Ebenso der Umgang mit Extremsituationen, Stress, Leid und Sterben. Wenn es um all die Belastungen geht, dachte der 53-Jährige früher oft an den Lutschpastillen-Werbespruch „Sind sie zu stark, bist du zu schwach“, erzählt der langjährige Notarzt.

„Nach dramatischen Ereignissen macht man einfach weiter und will funktionieren.“ Dass diese Einstellung nicht gesund sein kann, war Schießl lange vor der Pandemie klar, als er den Verein PSU-Akut mitgründete. Diese Organisation kümmert sich bundesweit um die kollegiale Unterstützung von Beschäftigten im Gesundheitssystem in schwierigen Situationen.

Dauerhafter Ausnahmezustand in der Pflege

Seit das Coronavirus die Intensivmedizin und andere Bereiche in fast dauerhaften Ausnahmezustand gestürzt hat, zählt die telefonische Beratung des Vereins tausende von Anrufen – insbesondere von Pflegekräften. „Ganz am Anfang der Pandemie war es die Angst vor der eigenen Ansteckung oder die der eigenen Familie zu Hause, die viele Kollegen bewegt hat, als die Schutzausrüstung knapp war“, berichtet Schießl. „Schon wenig später kamen die Ermüdungserscheinungen zur Sprache, die Menschen sind fertig von der Belastung und den Bildern, die sich bei ihnen auf der Intensivstation einbrennen.“

Pflege wird immer wichtiger. In den kommenden drei Jahrzehnten könnte sich die Zahl weltweiter Demenzfälle fast verdreifachen. Woher ...
Pflege wird immer wichtiger. In den kommenden drei Jahrzehnten könnte sich die Zahl weltweiter Demenzfälle fast verdreifachen. Woher kommen die Fachkräfte? | Bild: Christoph Soeder, dpa

„Unter den ohnehin schwierigen Bedingungen quält die Pflegekräfte besonders, wenn die Angehörigen nicht mit einbezogen werden können und sie selbst die letzten Begleiter der Sterbenden sind“, sagt der Intensivmediziner. „Man weiß, dass man der Letzte ist, der mit einem Covid-Patienten spricht, bevor man ihn intubiert und die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass er nicht überlebt.“ Auch Ärzte rängen an der Hotline mit Tränen.

3500 Intensivpfleger fehlen

Die Sterberate bei Corona-Kranken ist deutlich höher als beim Durchschnitt auf der Intensivstation. Vor allem liegen Covid-Patienten viel länger auf den Intensivstationen, die sonst meist nur eine kurze Durchlaufstation sind. Und sie benötigen eine aufwendigere Pflege. Dies erfordert viel Arbeitszeit und erhöht die Belastung des Personals. Überlastung und Personalnot sind nicht erst seit Corona ein Hauptproblem der Intensivpflege. Schon vor der Pandemie fehlten laut Deutscher Krankenhausgesellschaft 3500 Intensivpflegekräfte. Das Problem verschärft sich mit jeder Pandemiewelle.

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„Die Pflegekräfte erleben ein Dilemma, denn sie wissen, was sie mit ausreichender Zeit erreichen könnten, aber ihnen fehlt die Zeit, sich so um die Patienten zu kümmern, wie sie es für richtig halten“, sagt Schießl. „Stattdessen führt die Dauerbelastung dazu, dass man sich zu Hause fragt: Habe ich was übersehen? Was passiert mit den acht anderen Patienten, wenn ich mich um einen Notfall kümmern muss?“ Die Überlastung greife ins Unterbewusste. „Viele können nicht einschlafen. Sie haben ein Gefühl von Schuld, obwohl sie nicht schuld sind. Das nagt an den Menschen.“

Immer mehr Mitarbeiter fallen überlastungsbedingt aus

Schon vor Corona sind die Krankenfehlzeiten beständig gestiegen. Mit 22,4 Tagen im Jahr liegen sie gut 50 Prozent über dem allgemeinen Durchschnitt. Fast alle Krankenhäuser berichten, dass Pflegekräfte ihre Arbeitszeit reduziert oder sogar ihren Beruf aufgegeben haben. Genaue Zahlen gibt es im digital unterentwickelten Gesundheitssystem nicht. Die Zahl der betreibbaren Intensivbetten ist im vorigen Jahr erneut um einige Hundert gesunken. Personalnot und Krankenstand führen dazu, dass für viele Krankenpflegekräfte die Schichten immer schwieriger vorauszuplanen sind, weil sie oft einspringen müssen. Die mangelnde Kontrolle über die eigene Arbeits- und Freizeit ist einer der Hauptkritikpunkte.

„Das ist ein Teufelskreis, wenn jemand ausfällt, wird für die anderen die Belastung höher“, sagt Schießl. An der „Helpline“ versuchen der Oberarzt und sein Team gegen die Kündigungswelle anzusteuern. „Es ist kein guter Zeitpunkt, im Zustand maximaler Erschöpfung endgültige Lebensentscheidungen zu treffen. Da ist es wahrscheinlich besser, Arbeitszeit zu reduzieren, als alles hinzuschmeißen.“

Letzteres zu verhindern war einer der Gründe, warum Schießl den „PSU-Akut“ 2013 mitgegründet hat, der anfangs bei der Bewältigung traumatischer Erfahrungen in der medizinischen Arbeit helfen sollte. PSU steht für psychosoziale Unterstützung. „Uns geht es vor allem darum, sich kollegial zu unterstützen“, sagt der Mediziner. In der Pandemie sei das kollegiale Gespräch besonders wichtig. Denn verdrängen und auf Funktionsmodus schalten sei keine Lösung. „Die Auseinandersetzung ist wichtig. Darüber zu reden, darüber nachzudenken, es zu bewerten, auch zu beweinen, aber auch wieder den Abstand zu gewinnen.“

Ökonomisierung zurückdrehen

Doch auch Gesellschaft und Politik müssten ihren Blick auf die Medizin verändern, fordert der Oberarzt, der fast jedes Jahr um die Finanzierung des Vereins kämpft. Es passe nicht zusammen, von Beschäftigten Solidarität und Aufopferung zu verlangen, und auf der anderen Seite die Kliniken als gewinnorientierte Unternehmen zu organisieren. „Wir müssen Ökonomisierung und Profitdenken aus diesem Bereich rausnehmen. Denn es macht etwas mit den Menschen, wenn sie sich ausgenutzt fühlen.“