Wäre es nach Edzard Reuter gegangen, dann wäre der heutige Autobauer Mercedes-Benz ein ganz anderes Unternehmen. Aber es ging nicht nach ihm. Reuters Vision blieb eine Vision. Dass sie der richtige Weg gewesen wäre, davon war er immer überzeugt – bis zu seinem Tod.

Am 27. Oktober starb Edzard Reuter, Daimler-Vorstandschef von 1987 bis 1995, im Alter von 96 Jahren in seiner Heimat Stuttgart. Das teilte der Pressesprecher der Helga und Edzard Reuter-Stiftung mit. „Der Tod von Edzard Reuter erfüllt uns mit großer Trauer“, sagte Susanne Eisenmann, Kuratoriumsvorsitzende der Stiftung.

Reuter wollte aus dem Autokonzern ein Technologie-Imperium machen

Den früheren klassischen Daimler-Konzern gibt es heute nicht mehr. Er hatte sich 2021 aufgespalten. Die bisherige Lastwagensparte wurde als Daimler Truck abgespalten. Und die Autos sind nun in der Mercedes-Benz Group AG gebündelt. Reuter hatte in seiner Ära versucht, den Autokonzern zu einem viel breiter aufgestellten Technologie-Imperium zu machen.

Kritiker bezeichneten ihn als größten Kapitalvernichter aller Zeiten
Der Manager verhalf den Stuttgartern zu einer eigenen Luft- und Raumfahrttochter, der DASA. Auch AEG, Dornier und MTU gehörten dazu.

Das brachte dem Chef viel Aufmerksamkeit, doch am Ende scheiterte die Vision. Daimler kehrte zurück zum Kerngeschäft. Was blieb, war ein Milliardenverlust – und Reuter wurde den von Kritikern aufgedrückten Stempel des größten Kapitalvernichters aller Zeiten nie mehr los.

Edzard Reuter, damaliger Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG, 1992 mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl.
Edzard Reuter, damaliger Vorstandsvorsitzender der Daimler-Benz AG, 1992 mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl. | Bild: Bernd Weißbrod, dpa

Er selbst hat seinen Kurs immer verteidigt. „Wir haben im Einzelnen bei unserem Versuch, einen Technologiekonzern aufzubauen, gewaltige Fehler gemacht – gar kein Zweifel“, sagte er einmal der Deutschen Presse-Agentur. „Aber der grundsätzliche Weg ist nach meiner festen Überzeugung absolut richtig gewesen.“ Man habe schon damals überlegt, wie die Zukunft der Autoindustrie aussehen könne und wie das Unternehmen sich darauf einstellen solle.

Mercedes-Chef Källenius: „Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren“

„Wir trauern um eine herausragende Persönlichkeit unserer Firmengeschichte“, teilte Mercedes-Benz-Chef Ola Källenius mit. Vorstand und Belegschaft hätten die Nachricht vom Tod Reuters mit großer Betroffenheit aufgenommen. Reuter habe das Unternehmen mit visionärer Gestaltungskraft und einem umfassenden Verantwortungsbewusstsein geprägt. „Wir werden ihm ein ehrendes Andenken bewahren“, so Källenius.

„Mit Edzard Reuter verlieren wir einen mutigen Vordenker mit klaren Werten“, teilte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) mit. Er habe die soziale und ökologische Verantwortung von Unternehmen schon früh im Blick gehabt und seine Ideen trotz einiger Widerstände ehrgeizig vorangetrieben. Reuters Vermächtnis inspiriere laut Kretschmann dazu, unermüdlich für die eigenen Überzeugungen einzustehen und dabei unerschrocken neue Pfade zu beschreiten.

Kein glanzvoller Abschied bei Daimler

Der studierte Mathematiker und Jurist ist 1965 zu Daimler-Benz gekommen und wurde dort 1976 Vorstandsmitglied. Zweimal war er als Chef schon im Gespräch gewesen, zweimal jedoch wurden ihm andere Kandidaten vorgezogen. 1987 klappte es dann.

Einen glanzvollen Abschied bekam Reuter nicht – im Gegenteil. Die Reaktionen nach seinem Ausscheiden bei Daimler seien eine schwere, böse Demütigung gewesen, hat er einmal dem „Zeit-Magazin“ gesagt. Aber, das habe ihm seine Mutter vermittelt, so etwas müsse man ertragen, wenn man von der Richtigkeit seines Tuns überzeugt sei.

Edzard Reuter 1990 während eines Rundgangs auf der Internationalen Technologiemesse für Luft- und Raumfahrt in Hannover
Edzard Reuter 1990 während eines Rundgangs auf der Internationalen Technologiemesse für Luft- und Raumfahrt in Hannover | Bild: Holger Hollemann, dpa

Reuters Herz hing trotz allem an Daimler, selbstverständlich stand immer ein Mercedes in der Garage. Mit dem wurde er regelmäßig am Bodensee gesichtet. Anders als viele Wirtschaftslenker, die sich etwa auf der Höri oder auf der Schweizer Seeseite niedergelassen hatten, bevorzugte Reuter den Bodanrück. Das mittlerweile geschlossene Gasthaus Germania im Radolfzeller Ortsteil Liggeringen avancierte zu einer seiner Lieblingsgaststätten am Bodensee, in der er manchmal auch mit Stuttgarter Konzern-Managern auftauchte.

Und zu dem Bodmaner Künstler und Bildhauer Peter Lenk pflegte er ein gutes, fast schon freundschaftliches Verhältnis, obwohl dieser ihn einst in seiner unverwechselbaren Art und wenig schmeichelhaft als eine Art Mercedes-Heiligen porträtiert hatte. Dem Verhältnis der beiden tat das offenbar keinen Abbruch. Im Gegenteil: Über seine Stiftung spendete Reuter Geld für Lenks Kunst und setzte sich – ohne Erfolg – für den Verbleib einer Stuttgart-21-kritischen Lenk-Skulptur in der Landeshauptstadt ein.

In den Jahren nach seinem Ausscheiden waren es aber andere Themen, die im Vordergrund standen. Wer Reuter sah, ihn hörte oder von ihm las, dem dürfte es mitunter schwergefallen sein, das mit seinem einstigen Posten als mächtiger Wirtschaftsboss in Einklang zu bringen.

Der Sohn des legendären Berliner Regierenden Bürgermeisters Ernst Reuter, SPD-Mitglied seit Jahrzehnten, trat nicht nur als Streiter für mehr Anstand und Moral in der Wirtschaft, sondern auch als sozial- und gesellschaftspolitischer Mahner auf. Von seinem Haus am Rande Stuttgarts aus führte Reuter selbst die nach ihm und seiner Frau Helga benannte Stiftung, die sich für ein friedliches Zusammenleben von Menschen aus unterschiedlichen Kulturen einsetzt.

Reuters Familie floh 1935 vor den Nazis in die Türkei

„Wir müssen lernen, dass Fremde, die zu uns kommen und mit uns leben, auch unser Leben bereichern können, auch ändern können“, sagte Reuter einmal der dpa. Er selbst wuchs in der Türkei auf, nachdem seine Familie 1935 vor den Nazis dorthin geflüchtet war. Die Lage dort hielt er ebenso aufmerksam im Blick wie die nationalistischen Tendenzen in der Europäischen Union. Dass die gemeinsamen Wertvorstellungen, auf denen Europa basiere, einmal derart erodieren könnten, habe er sich nie vorstellen können, kritisierte er.

Darüber in Verzweiflung zu verfallen, all die Zeitungen und Bücher wegzulegen und sich abzuwenden, kam trotzdem nie infrage. So wie er an seine Vision glaubte, glaubte Reuter auch an das Gute im Menschen. „Ich glaube, dass wir Menschen die Fähigkeit haben, mit den größten Problemen fertig zu werden, auch wenn sie noch so schlimm sind.“ (dpa)