Herr Breyer, das deutsche Rentensystem ist eine Dauerbaustelle. Wie würden Sie deren Zustand beschreiben?
Beim Thema Rente fahren wir mit Volldampf auf den Abgrund zu. Im Moment schreit niemand laut auf, weil die Beitragssätze zur Rente noch vergleichsweise niedrig sind. Aber der Abgrund lauert, und er heißt Demografie. Wenn die Babyboomer ab der zweiten Hälfte der 2020er-Jahre in Rente gehen, wird es zu einer bislang beispiellosen Umwälzung in der Demografie kommen. Die Zahl der Arbeitnehmer wird stark ab-, die der Rentner stark zunehmen. Wir müssen jetzt reagieren und das Rentensystem umkrempeln. Und nicht erst, wenn es zu spät ist.
Vor wenigen Tagen hat sich die Vorsitzende der Wirtschaftsweisen, Monika Schnitzer, für eine tiefgreifende Rentenreform ausgesprochen. Ihr Vorschlag: länger arbeiten, höhere Beitragssätze und eine Entkopplung der Rentensteigerung von den Löhnen, also ein geringerer Anstieg der Renten. Hat sie recht?
Der Vorschlag basiert im Kern auf dem, was eine ganze Reihe von Wissenschaftlern, darunter auch ich, schon lange fordern. Zentral dabei ist, dass das Renteneintrittsalter an die Entwicklung der Lebenserwartung gekoppelt wird. Es ist doch ganz klar: Wenn die Deutschen länger leben, müssen sie auch etwas länger arbeiten, damit der Anteil der Arbeitszeit an der Lebensspanne konstant und das System finanzierbar bleibt. Dass die Politik diesen Zusammenhang kategorisch ablehnt, kann ich nicht nachvollziehen.

Werden wir also bald bis 69 arbeiten müssen?
Dass Frau Schnitzer die Zahl 69 ins Spiel gebracht hat, war ein taktischer Fehler, der nur Widerstände provoziert. Die Realität ist, dass kein Mensch weiß, wie sich die Lebenserwartung entwickelt. In den USA steigt sie seit sieben Jahren nicht mehr. Das ist eine Folge von Corona und der dort grassierenden Fettleibigkeit.
Es geht also nicht darum, ein festes Renteneintrittsalter festzulegen oder auch nur zu prognostizieren, sondern schlicht darum, den Zusammenhang zwischen Lebenserwartung und Lebensarbeitszeit anzuerkennen und das Rentensystem entsprechend umzubauen.
Ein weiterer Vorschlag der Wirtschaftsweisen ist, dass Bezieher hoher Renten künftig weniger bekommen, also nicht alle Rentner gleich behandelt werden. Ist das gerecht?
Es ist statistisch nachgewiesen, dass die Lebenserwartung von der Höhe des Einkommens abhängt. Grob gesagt leben Menschen mit hohen Einkommen und Renten auch länger. Daher ist es durchaus ein Aspekt der Gerechtigkeit, Menschen mit niedrigeren Einkommen bei der Rente einen Aufschlag zu gewähren. Denn sie können den Ruhestand ja nicht so lange genießen.
Ein anderes Argument kommt von den Bürgern selbst. In einer repräsentativen Umfrage in Deutschland unter 4000 Bürgern haben wir gefragt, ob es gerecht ist, dass einer, der immer doppelt so viel verdient hat wie ein anderer, auch doppelt so viel Rente bekommen sollte – was meinen Sie, was dabei herauskommt?
Sagen Sie es uns.
Die große Mehrheit der Befragten ist der Meinung, dass es gerecht ist, wenn die Gutverdiener bei der Rentenhöhe Einschnitte hinnehmen und damit auch diejenigen unterstützen, die im Alter weniger haben.

Wie ist es um die Finanzierung der Rente eigentlich genau bestellt?
Wenn wir weitermachen wie bisher, also das Rentenniveau bei 48 Prozent des Durchschnittseinkommens stabilisieren und gleichzeitig die Beiträge bei 20 Prozent konstant halten, wird Deutschland in 20 Jahren nicht mehr 27 Prozent (wie derzeit), sondern 54 Prozent seines Bundeshaushalts nur für die Rente aufwenden müssen. Dass andere wichtige Ausgaben, etwa in Bildung und Forschung, für Familien oder auch für Verteidigung, dann noch in einem ausreichenden Maß getätigt werden können, ist völlig undenkbar.
Von den jährlichen Staatszuschüssen ins Rentensystem, zuletzt waren das rund 110 Milliarden Euro, muss der Gutteil aufgebracht werden, um die Pensionen von Beamten und Freiberuflern zu bezahlen. Diese haben aber nie ins System einbezahlt. Ist das nicht ungerecht für die Rentenbezieher?
Es ist in der Tat ein Problem, dass die Einschnitte vergangener Rentenreformen nicht auf die Pensionen der Beamten übertragen worden sind. Ein Beispiel: 2005 hat man in die Rentenberechnung einen Nachhaltigkeitsfaktor eingebaut. Er besagt grob, dass die Rentensteigerungen geringer ausfallen, wenn sich das Verhältnis zwischen Rentnern und arbeitender Bevölkerung zulasten Letzterer verschiebt. Die Beamtenpensionen blieben von den Einschnitten bislang unberührt. Und das hat die Balance zwischen Renten und Pensionen verschoben.
Also haben wir mit Blick auf Pensionen ein Gerechtigkeitsproblem?
Man muss bei der Debatte um die Pensionen immer auch sehen: Beamte verdienen überdurchschnittlich gut und zahlen daher auch überdurchschnittlich viel Steuern. Damit finanzieren sie das Rentensystem indirekt aber auch in hohem Maß mit. Wir sprachen ja über die vielen Steuermilliarden, die mittlerweile jedes Jahr ins Rentensystem fließen.
Sollte die Rente mit 63 rückgängig gemacht werden?
Man hätte die Rente mit 63 nie einführen dürfen, übrigens genau wie die Mütterrente. Beide Programme waren ein Riesenfehler, kommen Deutschland sehr teuer und haben unerwünschte Nebenwirkungen. Die Rente mit 63 ist beispielsweise ein Grund für den eklatanten Mangel an erfahrenen Facharbeitern und hat dazu geführt, dass seit ihrer Einführung im Jahr 2014 mehrere Millionen von Arbeitnehmern den Arbeitsmarkt vorzeitig verlassen haben.
Die Wirtschaftsweise Schnitzer sagt, ihre Generation, also 60+, lebe beim Thema Rente über ihre Verhältnisse. Stimmt das?
Ich bin kein Freund dieser Aussage. Dass Problem der Babyboomer-Generation ist nicht, dass sie so viele sind oder zu viel konsumieren würden, sondern dass sie so wenige Kinder bekommen haben. Der Geburtenstreik in den 1970er- und 1980er-Jahren holt die Gesellschaft und das Rentensystem jetzt ein. Wer kein Humankapital bildet, muss Sachkapital bilden, hat mein Kollege Hans-Werner Sinn einmal gesagt. Und das stimmt. Die Generation hätte mehr auf die hohe Kante legen sollen.

Um die Rentenkassen stabil zu halten, plant Deutschland, das Umlagesystem durch Erträge zu ergänzen, die auf den Aktien- und Kapitalmärkten erwirtschaftet werden. Ist das richtig?
Wir brauchen eine Kapitaldeckung im Rentensystem, aber so, wie die Bundesregierung es machen will, wird es wenig bringen.
Warum?
Erstens sind die zehn Milliarden Euro, die dieses Jahr in die sogenannte Aktienrente fließen sollen, nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Hundert Milliarden wären angemessener. Zweitens ist die Idee, dass der Staat am Kapitalmarkt günstig Geld aufnimmt, dieses gewinnbringend anlegt und von den Erträgen sowohl seine Schulden bedient, als auch das Rentensystem querfinanziert, unter Ökonomen stark umstritten.
Ich finde, man sollte die Bürger zwingen, selbst Kapital anzulegen und so vorzusorgen. Das könnte beispielsweise durch eine grundlegende Reform der heute leider unattraktiven Riesterrente gelingen. Grundsätzlich ist es aber richtig, das Umlagesystem durch mehr Kapitaldeckung zu ergänzen.
Ist Einwanderung eine Möglichkeit, die Rente stabil zu halten?
Die Einwanderung von Hochqualifizierten kann einen Beitrag dazu leisten, aber sie ist keinesfalls die alleinige Lösung. Außerdem ist ganz und gar unsicher, ob die Fachkräfte überhaupt zu uns kommen würden. Auch andere Länder buhlen ja um sie. Und ein Land wie Deutschland mit hohen Steuern und zudem einer Sozialabgabenquote von mittlerweile über 40 Prozent hat eher schlechte Karten, wenn es ums Anlocken der besten Köpfe geht.
Warum ist es in Deutschland so schwer, freiwillig länger zu arbeiten? Das würde die Rentenkasse doch auch entlasten?
Das stimmt nicht so ganz. Es ist kein Problem, als normaler Arbeitnehmer über die Regelaltersgrenze hinaus zu arbeiten. Das wird sogar mit ziemlich hohen Zuschlägen auf die Rente belohnt.
Noch ist das Rentensystem stabil, ohne Reformen droht aber in nicht allzu ferner Zukunft der Kollaps. Warum gehen die Jungen nicht auf die Barrikaden, ähnlich wie sie das bei Klimaprotesten tun?
Das Thema ist komplex und abstrakt. Vor allem aber merkt man im Moment noch nicht viel von der drohenden Schieflage. Die Beitragssätze zu den Sozialversicherungen sind ja noch recht stabil. Das Versprechen der Politik, diese nicht über 40 Prozent des zu versteuernden Einkommens steigen zu lassen, wird sich aber nicht aufrechterhalten lassen. Schon in einigen Jahren wird es massiv teurer werden. Dann werden wir auch Proteste erleben.
Umso wichtiger ist es, jetzt schon umzusteuern, um den Schock abzufedern. Das ist übrigens auch im Interesse der Alten und jetzt arbeitenden Generation. Sie werden nämlich die Dummen sein, wenn die Leistungen, die sie für sich als gesichert ansehen, irgendwann nicht mehr finanzierbar sind und gekürzt werden. Sich für Reformen einzusetzen, ist daher in ihrem ureigensten Interesse.