Herr Wohlleben, in Ihrem neuen Buch steht ein Satz, der vielleicht die Mission Wohlleben umschreibt: Es geht darum, dass die Natur und der Respekt für sie wieder eine wichtige kulturelle Rolle spielen sollten. Was heißt das?

Es gibt ja unterschiedlichste Auffassungen darüber, was das überhaupt ist: Natur. Manche empfinden ja schon Weinberge oder landwirtschaftliche Fläche als Natur. Aber die Frage ist: Wozu brauchen wir überhaupt den Begriff? Ich würde sagen: Per Definition ist Natur das Gegenteil von Kultur. Sonst würde ja auch ein Naturschutzgebiet überhaupt keinen Sinn machen. Denn da schützen wir ja Landschaftsbestandteile vor nichts anderem als dem aktiven Eingreifen des Menschen. Und in dem Sinne haben wir ja kaum noch Natur in Deutschland. Wir haben keinen Quadratmeter Urwald, wir haben die Wälder alle umgestaltet, fast nirgendwo gibt es mehr einen Wald, der überhaupt halbwegs natürlich ist.

Wo ist dann die Brücke zwischen Natur und Kultur?

Es geht darum zu erkennen, wie wertvoll solche Natur ist – und wie stark wir Menschen damit noch verknüpft sind. Denn das haben wir vergessen. Und wir vergrößern oft durch eine Art depressive Stimmung die Distanz noch, weil wir meinen: Unsere Sinne sind generell ja so verkümmert und die Stadtbevölkerung habe gleich überhaupt ein noch schlechteres Naturverständnis. Das ist aber alles gar nicht so. Unsere Sinne funktionieren eins zu eins wie vor 300 000 Jahren, sie sind überhaupt nicht degeneriert. Wir Menschen, auch Städter, haben ein sehr gutes Bauchgefühl für das, was in der Natur passiert und was im Umgang mit ihr in Ordnung ist – wenn wir uns in ihr aufhalten. Dann merken wir: Wir stehen mit beiden Beinen in der Natur – und je stärker uns das bewusst wird, desto besser geht es uns.

Aber wie können wir die Natur denn für uns retten?

Das müssen wir gar nicht und das können wir auch nicht. Das hieße ja schon wieder, sie kontrollieren wollen. Die Natur kann das am besten selber. Wir müssen ihr nur einfach wieder ein bisschen mehr Raum dazu lassen. Im Moment haben wir sie eben an die Wand gedrückt – und damit uns selber. 

Aber die Natur kann uns heilen?

Ja, und das kann sich auch ganz konkret körperlich auswirken, das habe ich selbst auch schon erlebt. Mit meiner Sehschwäche. Die hielt man ja lange für genetisch bedingt. Aber seit ich in der Natur lebe und wieder viel mehr in die Ferne schaue, ist die Schwäche sehr stark zurückgegangen. Untersuchungen bei Kindern in Taiwan haben gezeigt, dass sie praktisch nur noch bis zum Display von Smartphone und Tablet schauen und sie deshalb praktisch alle sehr früh schon eine Brille brauchen – und dann eine immer stärkere. Ich habe ja selbst früher gedacht, wir Menschen würden degenerieren, also verweichlichen, etwa früher oder später alle Brillen tragen. Aber ich habe es selbst erlebt: Das stimmt nicht, das ist nur eine Form der Anpassung – das geht also auch wieder in die andere Richtung. Und das stimmt eben auch in viel umfassenderem Sinne.

Wenn sich das Kulturwesen wieder wesentlich als Naturwesen begreift …

Ja, denn auch Naturschutz ist ja letztlich Selbstfürsorge. Denn um ihrer selbst willen müssen wir die Natur ja gar nicht schützen. Natur ist ein Prozess. Und in 50 000 oder spätestens 100 000 Jahren rutschen über unsere ganzen Wälder auch wieder Gletscher und machen alles kaputt. Da können wir so viel Wald schützen, wie wir wollen. Selbst der menschengemachte Klimawandel, so dramatisch er ist, spielt auf lange Sicht keine Rolle. Es werden Arten aussterben, es werden wieder andere dazukommen. Aber jetzt spielt es eine Rolle – und zwar für uns. Wir brauchen letztlich nicht um die Orang-Utans zu weinen, so dramatisch und traurig deren Situation auch ist. Wir müssen begreifen: Wir gehören zur Natur – und wenn die Natur da draußen ramponiert wird, dann geht es um uns selber.

Aber ein Bewusstseinswandel zeichnet sich ja ab – das zeigen nicht zuletzt die Erfolge Ihrer Bücher.

2014, als der Verlag versucht hat, „Das geheime Leben der Bäume“ auf der Buchmesse anzubieten, haben noch alle abgewunken bei dem Thema. Schon im Jahr danach, als es erschien, gab es offenbar Interesse. Die große Wende aber kam Mitte letzten Jahres durch den heißen Sommer und den Streit um den Hambacher Forst. „Fridays for Future“ ist ja auch dadurch auf fruchtbaren Boden gefallen. So gibt es jetzt eine neue Demonstrationskultur und die politische Stimmung verschiebt sich auch unter dem Eindruck der letzten Hitzewellen nicht mehr so sehr nach rechts, sondern Richtung Umweltschutz. Das ist eine sehr ermutigende Entwicklung.

Aber Auslöser für diese Konjunktur sind doch Ängste und Sorgen, nicht das positive Hinwenden zur Natur, um das es Ihnen geht.

Der Alarm ist ein Weckruf, den wir tatsächlich brauchen. Es wird ganz deutlich: Wir müssen jetzt handeln und nicht erst in fünf Jahren. Aber wenn wir nur diese Hiobsbotschaften haben, dann wird das der aktuellen Situation nicht gerecht. Denn den allermeisten Menschen geht es so gut, wie noch keiner Generation vor uns – und da wäre es wirklich töricht, das Leben nicht auch zu genießen. Und in dieser Kombination sehe ich meine Aufgabe. Ich möchte die Menschen ermutigen zu sagen: Die Natur ist schön und faszinierend. Denn über solche positiven Gefühle vernetzt geht man anders mit der Sorge um. Wenn man erlebt, was für tolle Organismen Bäume sind, dann sieht man auch positiv den Wert des zu Schützenden. Und ein Nationalpark will ja niemandem etwas wegnehmen, sondern diese Naturjuwelen der Bevölkerung schenken. Das sind Oasen der Freude.

Und Verbündete im Klimaschutz?

Ja, dazu gibt es spannende Studien, die etwa besagen: dass im Juni, Juli und August die Durchschnittstemperatur in intakten Wäldern im Durchschnitt circa zehn Grad niedriger ist als in der freien Landschaft und um 15 Grad im Vergleich zu Städten. Das heißt: Die letzten Hitzewellen hätten wir mit großflächigen intakten Wäldern gar nicht gehabt. Das senkt zwar nicht die globalen Temperaturen – aber diese regionalen Spitzen, die kann ein intakter Wald absenken. Und das ist die gute Botschaft: Das kann man ändern. Wir brauchen nicht den Urwäldern nachzuweinen, die wir nicht mehr haben. Wir müssen jetzt anfangen, anders mit Wald umzugehen, dann haben wir in 50 Jahren womöglich eine ganz andere Situation in Deutschland. Es muss nicht unbedingt alles schlechter werden.

Und in den Städten?

Auch dort geht es darum, Natur wieder stärker in den Alltag zu integrieren. Hier stehen ja auch überall Bäume. Mit der Waldakademie beginnen wir nun damit, Baumführungen in Städten zu machen, auch in Bayern, dafür bilden wir gerade eigene Waldführer aus. Diese Bäume kann man nicht nur als Straßendekoration oder als Luftverbesserer sehen, sondern als eigenständige Lebewesen erleben, die da höchst interessant agieren. Und Studien zeigen dazu, welche dramatisch positiven Auswirkungen ausreichend Stadtbäume auf die Gesundheit der Bewohner haben. In Kanada und den USA wurde herausgefunden: Das verlängert das Leben um bis zu einem Jahr.

Sie schreiben in Ihrem Buch immer wieder, dass wir heute zu sehr mit wissenschaftlich-rationalem Blick auf die Natur schauen – aber fügen selbst ja immer wieder solche Studien an.

Ja, das ist ein scheinbarer Widerspruch. Aber das ist dem geschuldet, dass wir uns eben schwertun, uns auf eine gewisse Ebene im Blick auf die Natur einzulassen, zu glauben, was wir fühlen. Da ist es einfacher, wenn etwa Baumnetzwerke durch konservative Studien untermauert werden.

Sie beschreiben das Leben von Tier und Pflanze in Ähnlichkeit mit dem Menschen. Diesmal betonen Sie zudem, dass die Grenze zwischen Tier und Pflanze kaum haltbar ist. Wozu?

Ich glaube, diese festen Grenzen sind ein großes Missverständnis. Denn diese Einteilung – oben Mensch, dann Tier, unten Pflanze – ist ja nicht wissenschaftlich entstanden, sondern kulturell. Wenn Sie das aber untersuchen, stellen Sie fest, dass Pflanzen Neurotransmitter haben – Sie dürfen das in der Biologie bislang aber nicht Neuronen nennen, weil deren biologische Definition auf Tiere und den Menschen gemünzt ist. Aber wenn die Fakten nun etwa auch zeigen, dass Pflanzen stofflich so reagieren, als würden sie Schmerz empfinden? Das heißt nun nicht, dass der Mensch entthront wird, weil wir Pflanzen Fähigkeiten zusprechen, die unseren gleichkommen, darum geht‘s ja gar nicht. Aber solange man diese Kategorien so starr hält, stellt man bestimmte Fragen nicht und verhindert dadurch mögliche Erkenntnisse über die Natur, die wir brauchen und zu der wir selbst gehören.

Interview: Wolfgang Schütz