Wohlgeformt soll er sein. Nicht zu zierlich, nicht zu kräftig. Mit runden Kurven, aber ohne Fettpölsterchen. Der Körper einer Frau muss einiges erfüllen, um als weiblich zu gelten. Über sein Aussehen wird viel geredet, über seine biologischen Besonderheiten weniger. Menstruation, Geburt, Menopause, viele Themen rund um den Frauenkörper sind ein Tabu. Woran liegt das? Und welche Folgen hat das? Zeit für eine körperliche Erkundungstour.
Vierter Stock, lachsfarbenes Gebäude, das Brandenburger Tor liegt Luftlinie fünf Kilometer entfernt. Hier, auf dem Gelände des Evangelischen Geriatriezentrums im Norden von Berlin, hat Gertraud Stadler ihr Büro. Die 48-Jährige leitet das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin an der Charité. Das einzige seiner Art in Deutschland, vor 20 Jahren gegründet mit dem Ziel, Geschlechterunterschiede in Gesundheit und Krankheit zu untersuchen.
Inzwischen forschen rund 30 Frauen und Männer in fünf Bereichen: Prävention, Versorgung, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Methodenentwicklung sowie Geschlecht und Diversität. „Bei den beiden Begriffen werden viele hellhörig, da gibt es einige politische Missverständnisse“, erklärt Stadler gleich vorweg. „Wir wollen niemanden bekehren, sondern die Versorgung für alle verbessern.“ Weniger Gender-Gaga, mehr individualisierte Medizin. Bislang orientiert sich die Medizin vor allem am Mann und ignoriert Unterschiede, die Leben retten können.
Wie sehr unterscheidet sich der weibliche Körper vom männlichen? In jeder einzelnen Zelle, sagt Stadler. Denn Frauen tragen in ihren Zellen neben 44 Autosomen zwei X-Chromosomen, Männer ein X- und ein Y-Chromosom. Bedeutet: Anderer Hormonhaushalt, andere Auswirkungen auf das Herz-Kreislauf- und Immunsystem. „Frauen sind nicht leichte, kleine Männer, sondern chromosomal, hormonell und anatomisch anders ausgestattet“, sagt Stadler. Sie haben mehr Fettgewebe und weniger Muskelmasse, ihr Stoffwechsel ist langsamer, was dazu führt, dass sich Krankheiten unterschiedlich äußern können und manchmal verschieden behandelt werden müssen.
Wegen Brüsten keine Herzdruckmassage
Bekanntes Beispiel: Herzinfarkt. Frauen haben ein höheres Risiko, an ihm zu sterben, denn er wird oft später oder zu spät erkannt. Zum einen, weil die Symptome vielfältiger und schwerer zu diagnostizieren sind. Frauen haben nicht nur ein Druckgefühl im Brustraum. Bei ihnen können auch Müdigkeit, Übelkeit oder Schmerzen im Nacken, Kiefer oder zwischen den Schulterblättern ein Anzeichen sein. Zum anderen denken Frauen in der Vorsorge weniger an ihre Herzgesundheit.
Sie kommen später in die Klinik und nehmen seltener invasive Eingriffe in Anspruch, weil sich ein anschließender Reha-Aufenthalt oft schlecht mit ihrer Lebensrealität inklusive Kinderbetreuung und Job vereinbaren lasse. „In der Medizin bedeutet die Gleichberechtigung von Frauen eine ungleiche Behandlung“, sagt die Ärztin und Wissenschaftsjournalistin Stefanie Schmid-Altringer. „Langfristig geht es um eine möglichst personalisierte Medizin, die individuelle Lebenssituationen berücksichtigt.“
Schmid-Altringer beschäftigt sich seit Langem mit dem Thema Frauengesundheit. Sie hat schon vor 25 Jahren einen Film über Herzinfarkt bei Frauen gedreht. „Damals war das Thema neu, inzwischen wissen viele, dass Frauen andere Symptome haben können.“ Doch eins hat sich nicht geändert: Wenn eine Frau mit einem Herzinfarkt auf der Straße liegt, gehen mehr Menschen an ihr vorbei als an einem Mann. Ein Grund könnten die Brüste sein. „Viele schrecken vor einer Herzdruckmassage zurück oder wissen nicht, wie es bei Frauen geht, weil es in den Erste-Hilfe-Kursen nicht berücksichtigt wird“, sagt Schmid-Altringer.
Brüste als Hürde, die über Leben und Tod entscheiden kann? Spätestens damit sind sie politisch. Der weibliche Körper ist eben keine Privatsache. Seit Jahrhunderten wird er von der Gesellschaft beäugt. Schönheitsideale dienen dem Konsumkapitalismus, Mädchen werden sozialisiert, in ihre Schönheit zu investieren. Davon bleibt auch der Intimbereich nicht verschont. „Vulven haben unterschiedlichste Formen und Größen, aber die Vorstellungen dessen, was normal ist, sind vollkommen verschoben“, sagt Stadler. Die Folge: Immer mehr Frauen unterziehen sich für eine sogenannte Barbie-Vagina einer Intimkorrektur.
Die Periode als Sündenfall
Wenn gerade schon von Vaginas die Rede ist, Achtung: Jetzt wird es blutig, denn bei Tabus über den weiblichen Körper bleibt die Periode nicht aus. Durchschnittlich 60 Milliliter Blut verliert eine Frau jeden Monat. Um das aufzufangen, gibt sie in ihrem Leben mehrere Tausend Euro für Menstruationsartikel aus. Obwohl rund zwei Milliarden Mädchen und Frauen auf der Welt jeden Monat menstruieren, ist die Regelblutung immer noch mit negativen Gefühlen wie Scham und Ekel verbunden.
Schon in der Antike galten menstruierende Frauen als sonderbar, die christliche Kirche ächtete sie als unrein und deutete die Periode als Strafe Gottes für Evas Sündenfall. Das Stigma hinterlässt bis heute Spuren. Verstohlen werden Tampons weitergereicht und Ausreden für den Schwimmbadbesuch erfunden. Die Periode wird diskret verheimlicht, dabei leiden viele Frauen an Menstruationsbeschwerden und hangeln sich mit Schmerztabletten durch den Tag.
„Viele Frauen wissen nicht, wie sie mit ihren Beschwerden am besten umgehen“, sagt Stadler. „Beim Arzt werden sie teils nicht ernst genommen oder sie bekommen einfach die Pille verschrieben.“ In einigen Ländern wird im Arbeitsalltag Rücksicht genommen, in Japan können Frauen bei Menstruationsbeschwerden einen Tag im Monat freinehmen. Aber zyklusgerecht leben die wenigsten Frauen in westlichen Leistungsgesellschaften.
Auch bei Männern gibt es blinde Flecken
Das Wissen über den weiblichen Körper ist teilweise rudimentär. Das merkt die Expertin auch bei Workshops an Schulen. Das beginnt bei einfachen Fragen: Wie benutzt man ein Tampon? Wie pflegt man seinen Intimbereich? „Es geht so weit, dass manche Schüler nicht wissen, wie viele Körperöffnungen eine Frau hat“, sagt Schmid-Altringer. Die Wissenslücken ziehen sich bis ins Studium fort.
Mehr als 100.000 Menschen studieren in Deutschland Medizin, darunter 70 Prozent Frauen. Doch an den wenigsten Unis ist das Studium geschlechtersensibel gestaltet. Schon der Blick in Anatomiebücher zeigt: Der Mann steht im Fokus. An ihm werden Organe erklärt und Körperkreisläufe illustriert.
Frauen haben nicht nur ein höheres Risiko, an einem Herzinfarkt zu sterben. Sie bekommen auch häufiger Psychopharmaka verschrieben. Weil ihr Körper Medikamente langsamer abbaut, ist die vorgeschriebene Dosis oft zu hoch. Und auch bei der Wirkung von Impfstoffen gibt es Unterschiede, denn das Immunsystem von Frauen ist schneller, aggressiver. Sie erkranken seltener an Vireninfektionen, dafür leiden sie häufiger an Autoimmunkrankheiten und reagieren stärker auf Impfungen.
Ein harmloses Beispiel, warum geschlechtersensible Medizin hilfreich sein kann: Wegen ihrer Beckenform haben Frauen eine breitere Beinachse. Um Meniskusprobleme zu vermeiden, könnten sie gezielt ihre Knie trainieren. Aber Krafttraining betreiben eher Männer. Schmid-Altringer kann Dutzende solcher Beispiele nennen. Sie sagt: „Das alles ließe sich vermeiden, wenn Ungleichheiten wahrgenommen und ernst genommen würden.“
Nach so vielen Zeilen über Frauen darf man schon mal fragen: Wo stehen eigentlich die Männer? Strukturell ganz oben, denn der Medizinbetrieb ist immer noch männerdominierter. Abgesehen davon steht es um die Männer in der Medizin aber nicht viel besser als um die Frauen. Ein Beweis: Männer sterben im Schnitt fünf Jahre früher. Müsste ihre Gesundheit nicht vielmehr im Fokus stehen? „Genau darum geht es in der geschlechtersensiblen Medizin, sie bezieht alle Geschlechter mit ein und ist langfristig für alle von Vorteil“, sagt Stadler.
Auch bei Männern gebe es blinde Flecken und massive Datenlücken. Beispiel Depression: Da sind Männer stark unterversorgt, ihre Symptome sind weniger bekannt. Um alle Menschen individualisiert und damit besser behandeln zu können, müssen sämtliche Diversitätsmerkmale wie Geschlecht, Alter, sexuelle Orientierung, sozialer Status, Sorgearbeit, Beeinträchtigungen aller Art erfasst und mitgedacht werden. Stefanie Schmid-Altringer sagt: „Das Ping Pong der Geschlechter muss aufhören, wir brauchen eine Medizin für alle Menschen.“