Herr Dr. Fuchs, ist das Reizdarmsyndrom eine neue Volkskrankheit?
Das Syndrom ist in der Tat relativ häufig. Man geht davon aus, dass in Deutschland acht bis 14 Millionen Menschen davon betroffen sind. Trotzdem ist es keine Volkskrankheit wie etwa Bluthochdruck, der noch viel verbreiteter ist.

Ist die Krankheit in den letzten Jahren häufiger geworden?
Das kann man schlecht sagen, weil die Dunkelziffer hoch ist. Nur etwa 50 Prozent der Betroffenen gehen wirklich zum Arzt. Möglicherweise wird die Krankheit heute allerdings häufiger erkannt. Seit Neuestem gibt es Definitionen, die es einem Hausarzt erleichtern, die Verdachtsdiagnose zu stellen.
Welche Definitionen sind das – Symptome wie Blähungen und Bauchschmerzen hat ja jeder mal?
Genau. Früher wurde das Syndrom öfter nicht erkannt, weil man sagte: Der hat eben häufiger Blähungen. Die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselkrankheiten hat die Krankheit jetzt klar definiert: Magen-Darm-Beschwerden, die länger als drei Monate auftreten und so stark sind, dass der Patient Hilfe braucht, sprechen für ein Reizdarm-Syndrom. Andere Ursachen müssen ausgeschlossen werden.
Ist es sehr unterschiedlich, wie stark die Beschwerden sind?
Ja. Viele Patienten beachten ihre Beschwerden nicht großartig. Aber es gibt auch solche, die praktisch Invaliden sind, weil die Symptome so im Vordergrund stehen, dass sie kaum andere tägliche Verrichtungen wahrnehmen können. Da gibt es ganz große Unterschiede.
Wie kann man sich das vorstellen?
Bei diesen Patienten rückt alles, was irgendwie mit der Verdauung zu tun hat, in den Vordergrund, jeder Stuhlgang, jeder Schmerz, auch das Essen. Ernährung wird oft zu einem Riesen-Thema. Viele Betroffene klammern Grundnahrungsmittel aus, ohne dass erwiesen wäre, dass diese Nahrungsmittel wirklich die Beschwerden auslösen. Das kann die Lebensqualität stark einschränken.
Die Patienten meinen also oft fälschlicherweise, sie würden bestimmte Nahrungsmittel nicht vertragen?
Ja. Eine gewisse Vermeidungsstrategie ist häufig bei Patienten, die einen hohen Leidensdruck haben. Manchmal bessern sich die Beschwerden dadurch tatsächlich. Aber oft handelt es sich um subjektive Diäten, die wenig wissenschaftlich fundiert sind.
Gibt es auch Ernährungsweisen, die medizinisch sinnvoll sind?
Es gibt eine Diät, die wirklich getestet ist und über die in Fachkreisen viel diskutiert wird, nämlich die Fodmap-Diät. Dabei werden fast alle Zuckerformen weggelassen. Sie wurde vor fast zehn Jahren von australischen Forschern vorgestellt. Es gibt ganz gute Daten dazu, dass das konsequente Weglassen der Fodmap-Lebensmittel zu einer deutlichen Besserung der Beschwerden führt und darüberhinaus zu einer Änderung des Mikrobioms. Eine der Ursachen, die man beim Reizdarmsyndrom annimmt, ist nämlich auch eine veränderte Mikroflora im Darm.
Kann man es auch auf eigene Faust versuchen, oder ist das riskant?
Man sollte auf jeden Fall mit dem Arzt oder Ernährungsberater sprechen. Die Diät bedeutet nämlich eine starke Einschränkung, da man unter anderem auf sämtliche hiesige Getreidesorten verzichten muss. Es wird empfohlen, das sechs bis acht Wochen lang durchzuziehen und dann nach und nach wieder einzelne Nahrungsmittel zuzulassen. Dabei muss man genau schauen: Was vertrage ich? Wenn die Beschwerden bei einem Lebensmittel wieder stärker werden, dann weiß man, was man meiden muss.
Würden Sie eine solche Ausschlussdiät allen Patienten grundsätzlich empfehlen?
Die Ursachen des Reizdarmsyndroms sind sehr unterschiedlich, genauso unterschiedlich sind die Symptome des Patienten. Die Eliminationsdiät ist eher etwas für Patienten, die ein Reizdarmsyndrom vom Blähtyp haben. Die Zuckerstoffe, die man zu sich nimmt, werden teilweise vergoren. Dadurch entstehen Gase und es wird Flüssigkeit gebunden, was die Blähungen und den Durchfall erklärt.
Welche Rolle spielt das veränderte Mikrobiom beim Reizdarm?
Das Mikrobiom kann aus dem Gleichgewicht geraten, sodass es verstärkt Bakterien gibt, die Gase bilden und das Reizdarmsyndrom beeinflussen. Dabei spielen sicherlich unter anderem unser Lebensstandard, Antibiotika und die Ernährung eine Rolle, bewiesen ist das jedoch nicht. Daneben können aber auch Magen-Darm-Infekte Veränderungen bewirken. Ein schädlicher Keim kann sozusagen alles durcheinander bringen und so das Reizdarm-Syndrom auslösen.
Welche Risikofaktoren gibt es aus medizinischer Sicht sonst im menschlichen Körper?
Da kommen viele Faktoren infrage, neben dem Mikrobiom zum Beispiel die nervliche Verknüpfung des Darms, aber auch psychische Komponenten. Menschen, die zu Angststörungen neigen, scheinen eher ein Reizdarmsyndrom zu entwickeln. Außerdem sind Singles und Menschen, die unter Stress leiden, häufiger betroffen.
Was passiert, wenn die Krankheit nicht behandelt wird – ist das dann am Ende der Gesundheit abträglich oder sogar gefährlich?
Das Reizdarmsyndrom selbst hat keine Auswirkungen auf die Lebenserwartung. Allerdings können schwere Erkrankungen ähnliche Symptome auslösen. Daher ist bei Frauen eine gynäkologische Untersuchung nötig, um die Diagnose zu sichern. Zum Beispiel kann ein Ovarialkarzinom, also Eierstockkrebs, im Anfangsstadium ähnliche Beschwerden machen. Außerdem gehört bei Erwachsenen eine Magen-Darm-Spiegelung dazu, um eine schwere Entzündung, etwa einen Morbus Crohn, auszuschließen. Auch eine Zöliakie und eine Fruktose- oder Laktose-Unverträglichkeit müssen ausgeschlossen werden.
Wie sieht die Therapie bei Reizdarm aus?
Das kommt darauf an. Abhängig von den Symptomen unterscheidet man verschiedene Krankheitsformen. Je nach Typ stehen Blähungen, Durchfall, Verstopfung oder Schmerzen im Vordergrund. Ein Allround-Medikament gibt es nicht, und das macht die Therapie so schwierig. Der Schmerztyp profitiert oft von Probiotika oder krampflösenden Mitteln, etwa Pfefferminzöl- oder Kümmel-Präparaten. Bei Verstopfung helfen dagegen eher Abführmittel und Ballaststoffe.
Haben Sie auch Ernährungstipps für alle Patienten?
Von Fertigprodukten sollte man auf jeden Fall abraten. Geschmacksverstärker und weitere Stoffe, die darin enthalten sind, können sich negativ auswirken. Bei allem anderen kommt es immer sehr darauf an, was man verträgt. Es gibt aber keine klare Empfehlung zur Ernährung bei Reizdarm.
Ist es sinnvoll, ein Tagebuch zu führen, um den Übeltätern auf die Spur zu kommen?
Das Problem ist auch hier, dass die Wahrnehmung der Patienten subjektiv ist. Viele hören in sich hinein und klammern Nahrungsmittel aus, von denen sie meinen, dass sie ihnen nicht guttun. Ich hatte Patienten, die auf Weizen, Fruktose und Laktose verzichtet haben. Irgendwann bleibt dann nicht mehr viel übrig. Aber ein Ernährungs- und Symptomtagebuch kann natürlich helfen, bestimmte Übeltäter zu entlarven.
Fragen: Angela StollZur Person
Dr. Erik-Sebastian Fuchs (48) ist seit 2011 Oberarzt der Medizinischen Klinik C des Klinikums Ludwigshafen. Der Internist und Gastroenterologe beschäftigt sich vor allem mit entzündlichen oder tumorösen Erkrankungen des Magen-Darm-Traktes. (ast)