Herr Wikelski, ich frage mal provokant: Warum sollten wird uns für Tierwanderungen und das Flugverhalten von Amseln interessieren? Wir sind doch schon mit menschlichen Migrationsströmen ausgelastet...
Viele große Fragen des Lebens auf der Erde hängen tatsächlich am Migrationsverhalten. Das zeigen Pandemien wie Corona, die unser Leben massiv beeinflussen. Tiere erbringen in unserem Ökosystem wichtige Dienstleistungen, etwa die Singvögel. Brechen hier die Populationen ein, kann es zu Missernten kommen.
Andere Tiere sorgen durch Samenausbreitung in ihrem Kot quasi für Aufforstung, wie etwa Flughunde in Afrika. Weiterhin wird unser Wetterbericht besser, wenn wir Bewegungsdaten von Tieren einfließen lassen, und auch die Klimaprognosen werden optimiert. Das ist alles möglich, wenn man möglichst viele Tiere mit winzigen Sendern ausstattet.
Das heißt, wir können unsere technischen Beobachtungen durch biologische Datenlieferanten ergänzen?
Genau. Es geht sogar noch mehr. Was technisch bisher kaum möglich ist, nämlich einen Vulkanausbruch oder ein Erdbeben genau vorherzusagen, das könnte über den sechsten Sinn von Tieren erfolgen. Denn manche verhalten sich vor einem Ausbruch auffällig, wie auch die Tsunami-Katastrophe 2004 in Ostasien gezeigt hat. Warum sollten wir keine Tiere zur Gefahrenwarnung verwenden, wo wir doch auch Drogensuch- und Lawinensuchhunde einsetzen?
Biologie ist der Technik also in einigen Dingen überlegen?
Ja, aber der große Fortschritt steht uns noch bevor. Durch das Zusammenführen aller über die Sender an Tieren übermittelten Daten machen wir einen Quantensprung. Das ist vielen Menschen noch gar nicht klar. Es geht nicht darum, dass Forscher hier und da etwas mehr verstehen, sondern um den allgemeinen Nutzen. Das ist ähnlich wie etwa bei Google, wo man Verkehrsdaten erfasst, einfach indem viele Autofahrer ihr Handy angeschaltet haben. Diese Daten helfen, den Stau zu umfahren. Genauso werden wir künftig die gebündelte Information von Tieren nutzen können.
Tiere werden also – wo notwendig – Lotsen unserer Handelns?
Exakt. So stellen wir uns das vor. Genau das ist in der Physik passiert, dann in der Chemie. Jetzt kommt die Biologie an die Reihe. Wir haben den Vorteil, dass die Tiere die intelligentesten Sensoren sind. Wenn deren Daten zusammengeschaltet werden, entsteht ein riesiges Potenzial, von dem wir uns noch gar keine Vorstellung machen. Wer dachte vor 20 Jahren, dass es heute möglich ist, die Fahrzeit zu einer Stadt minutengenau zu berechnen?
Für die Datenanalyse wird auch Künstliche Intelligenz eingesetzt?
Ganz genau. Der Zugang geschieht über neu entwickelte Biodiversity-Apps, mit denen wir jetzt automatisch das Tierverhalten global auswerten und interpretieren können. Da sind wir zusammen mit der Universität Konstanz die Vorreiter. Wir wollen damit die Verarbeitung der Tiersender-Daten demokratisieren. Das passiert über die Zusammenarbeit zwischen Biologen und Programmierern.
Ein Beispiel: Es wäre möglich, über die App zu fragen, ob die Schwalben in ganz Südbaden tief fliegen, was auf ein starkes Gewitter hindeuten würde. Dann bekommt man eine Nachricht aufs Handy. In vielen entlegenen Gegenden der Welt könnten tierische Informationen für die Bevölkerung überlebenswichtig sein.
Eine Art biologisch generierte Wettervorhersage?
Ja, allerdings kann man sich die Inhalte und Analysen selbst zusammenstellen. Man kann zum Beispiel selbst bestimmen, ab welchem Gewitter-Gefahrengrad man gewarnt werden will, damit man nicht in einen Hagel-Schauer gerät.

Aber wer stattet die vielen Tiere, die nötig sind, mit einem Sender aus?
Es gibt eine weltweite Zusammenarbeit. Tiere werden für verschiedenste Aufgaben besendert. Ein Vergleich: Jeder nutzt sein Handy für etwas anderes, aber die Verkehrsdaten kommen von allen Geräten. So ist es auch bei den Tieren. Den einen interessiert das Zugverhalten von Amseln, den anderen die Schweinepest, den nächsten die Rehe im Wald.
Aber alle Tiere liefern Daten, bis jetzt sind es für unser Icarus-Projekt schon mehr als 20.000 Tiere, die täglich 12 Millionen GPS-Punkte schicken. Dahinter verbergen sich 1400 Arten, die bisher zusammen 6 Milliarden GPS-Aufenthaltsorte weltweit berichtet haben. Das ist zwar immer noch zu wenig, aber eine gute Repräsentanz in der Tierwelt. Und die Besenderung steigt weiter an.
Es ist also denkbar, dass etwa ein Förster im Schwarzwald, würde er ein Reh oder ein Wildschwein besendern, zum Teilnehmer an Icarus wird?
Genau. Wir haben etwa mit der österreichischen Firma Tractive, die GPS-Tracker für Haustiere verkauft, einen Partner. Auf einige der schon verkauften Geräte haben wir unsere Algorithmen aufgespielt. Das betrifft rund 4500 Hunde und Katzen in München und rund 400 in Konstanz. Diese Tiere schicken uns jetzt schon komplett anonym die Information, ob es Situationen gibt, in denen sie sich auffällig oder unruhig verhalten.
Man hört ja immer wieder davon...
Ziel ist, dass wir mit Hilfe von Tractive auf eine Million datenliefernde Haustiere kommen. Dann haben wir ein System, das hoffentlich vor dem nächsten zu erwartenden Erdbeben in der Türkei warnt. Wichtig ist dabei aber auch, dass wir als Forscher nicht selbst warnen dürfen. Das können nur die staatlichen Stellen machen, die von uns die Informationen bekämen.
Haben die Interesse?
Ja, zum Teil. Sie sind aber auch noch vorsichtig und skeptisch. Klar, denn wir müssen mit den Daten erst einmal zeigen, dass so etwas gut funktioniert und wir müssen die Behörden überzeugen.
Wie erfahre ich als Tierhalter und Käufer eines Tractive-Halsbands, dass mein Hund für die Forschung Gassi geht?
Es ist so ähnlich wie bei einem Computer oder beim Smartphone. Man muss den AGB zustimmen. In den AGB ist festgelegt, dass Informationen allgemeiner, technischer Art, also keine personalisierten Daten, übermittelt werden. Wie etwa bei Google Traffic sind die Daten anonymisiert. Wir wissen nicht, wem Hund oder Katze gehören und wo der Halter wohnt.
Haben Sie schon merkwürdiges Tierverhalten geortet?
Bisher noch nicht, wir haben gerade erst angefangen. Wir wollten das beim letzten Münchner Oktoberfest machen, waren aber zu spät dran. Jetzt schauen wir, was sich tut, wenn der FC Bayern in der Allianz-Arena spielt. Auch Silvester und Feuerwerke haben wir im Blick.
Aber nicht alle Haustiere verhalten sich gleich...
Ja, wir gehen davon aus, dass nicht alle Hunde und Katzen gleich sensitiv sind. Das haben auch Ziegen in Italien gezeigt. Auch Hunde und Katzen sind Individuen. Es kann sein, dass unter den 4500 Tieren in München nur 200 sind, deren Verhalten uns auffällig wird. Aber der Wissenszuwachs durch die Information von Haustieren wird sicher sprunghaft ansteigen – und zwar weltweit.
Wie lange hält ein Akku für einen Sender?
Wir kommen von Batterien ab und schwenken auf Kondensatoren mit Solartechnik um. Die sind viel energieeffizienter. Da kann ein 1-Gramm-Sender jahrelang durchhalten.
Sie wagen sich auch an Meerestiere?
Ja, wir wollen das terrestrische mit dem marinen Leben zusammenbringen. Da arbeiten wir mit der Bio-Logging-Szene dran und dem Fischereiverein Konstanz. Mit Fischen ist es schwierig, aber mit See-Elefanten, die bis zu 1000 Meter tief tauchen, funktioniert das, weil sie auftauchen und dann Daten schicken können. Die sind sogar als offizielle „Umwelt-Bojen“ gelistet, weil sie unglaublich wichtige Messdaten etwa aus der Antarktis liefern.

Eine Art biologisches U-Boot also...
... ja, das auch sehr gut geschützt wird, weil See-Elefanten einfach großartige Tiere sind – und noch dazu die besten Datenlieferanten. Das Tier wird für sich und für den Menschen geschützt.
Martin Wikelski ist am Mittwoch, 20. März, 19 Uhr zum Vortrag zum Thema „The Internet of Animals: Was wir von der Schwarmintelligenz des Lebens lernen können.“ Eintritt: 15 Euro, für SÜDKURIER-Abonnenten 10 Euro. Buchung unter: suedkurier.reservix.de oder 0800/999-1777. Für die Veranstaltung mit der Buchhandlung Osiander im Medienhaus, Max-Stromeyer-Straße 178, in Konstanz startet der Einlass um 18.30 Uhr.