Noch eine Milliarde Euro teurer, noch ein Jahr später fertig: Die Meldung über die Kostensteigerung für Stuttgart 21 schlug gestern wie eine Bombe ein. Das Bahnprojekt läuft zusehends aus dem Ruder. Einer öffentlich gewordenen Aufsichtsratsvorlage der Bahn zufolge geht die Bahn inzwischen selbst von einem Kostenrahmen von 7,6 Milliarden Euro für das Großprojekt aus. Damit rückt der Staatskonzern der von den Stuttgart-21-Gegnern bereits seit Jahren prognostizierten Summe von bis zu zehn Milliarden Euro erneut ein Stück näher. Bislang hatte die Bahn offiziell mit maximal 6,5 Milliarden Euro inklusive eines Puffers kalkuliert.
Von der Bahn und der in Stuttgart angesiedelten Projektgesellschaft gab es gestern auf Anfrage keinen Kommentar dazu. Ein Bahnsprecher verwies auf die kommende Sitzung des Kontrollgremiums am 13. Dezember. Aus Kreisen des Aufsichtsrats werden jedoch etwa gestiegene Baukosten genannt, Verzögerungen in den Planungsverfahren und strenge Vorschriften des Artenschutzes für Eidechsen und Käfer.

Diese Gründe wurden schon vor vier Jahren aufgezählt, als der Kostenrahmen um zwei Milliarden Euro erhöht wurde. Die Bahn wollte gegensteuern, um Kosten und Zeitplan im Griff zu halten, das hat offenkundig nicht geklappt. Zunehmend unter Handlungsdruck geraten war die Bahn zudem, als auch der Bundesrechnungshof im vergangenen Jahr nach umfassender Prüfung zu dem Schluss kam, dass Kosten- und Zeitrahmen des Projekts nicht zu halten seien und den Aufsichtsrat zum Handeln aufforderten. Dieser gab ein externes Gutachten in Auftrag. Inhalt: die erneute Überprüfung von Gesamtwertumfang, Finanzierungsrahmen und des Inbetriebnahmetermins für das Projekt Stuttgart 21. Aus diesem Gutachten, das dem Aufsichtsrat in seiner Sitzung am 13. Dezember 2017 vorgestellt werden soll, sickerten jetzt die neuen Zahlen durch.
Stuttgart 21: Von der Unterschrift bis zur Kostensteigerung (1)
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2. April 2009Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee (SPD), Ministerpräsident Günther Oettinger (CDU) und Bahn-Vorstand Stefan Garber unterzeichnen die Finanzierungsvereinbarung für Stuttgart 21.
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2. Februar 2010Die Bauarbeiten beginnen begleitet von Protesten, die später immer wieder auflodern.
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30. September 2010Der Konflikt um Stuttgart 21 eskaliert. Bei der Räumung des Schlossgartens neben dem Hauptbahnhof mit Wasserwerfern werden laut Innenministerium weit mehr als 160 Menschen verletzt. Das Bild des Rentners Dietrich Wagner mit blutenden Augen geht um die Welt. Der Tag geht als „Schwarzer Donnerstag“ in die Geschichte ein.
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22. Oktober – 27. November 2010In acht runden Schlichtung streiten Befürworter und Gegner über die Leistungsfähigkeit des Tiefbahnhofs.
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27. Oktober 2010Der Landtag setzt auf Antrag der SPD einen ersten Untersuchungsausschuss zum umstrittenen Polizeieinsatz ein.
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30. November 2010Der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler spricht sich in seinem Schlichterspruch für den Weiterbau des Projekts aus, verlangt aber Nachbesserungen.
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26. Januar 2011Der erste Untersuchungsausschuss schließt seine Arbeit ab. SPD und Grüne machen die Landesregierung und Ministerpräsident Stefan Mappus (CDU) für den massiven Polizei-Einsatz verantwortlich.
Zugleich geht das Unternehmen nun offenbar davon aus, dass sich die Fertigstellung des neuen Tiefbahnhofs samt neuem Bahnknoten in Stuttgart um ein weiteres Jahr auf Ende 2024 verzögert. Der neue Tiefbahnhof hätte ursprünglich bereits 2021 in Betrieb gehen sollen. Aber schon 2016 war bei der Bahn von einer Verzögerung von etwa zwei Jahren ausgegangen worden.

Vertreter der Projektpartner von Land, der Stadt und Region Stuttgart und Flughafengesellschaft – sowie aus der Politik reagierten gestern in Stuttgart mit Empörung und zum Teil scharfen Worten auf die neuerliche Verschiebung von Kosten- und Zeitrahmen für das umstrittene Milliardenprojekt. Von einem „riesigen Problem“ sprach Landesverkehrsminister Winfried Hermann (Grüne): „Die neuen Daten sind erschreckend. Sie bestätigen leider Befürchtungen der Vergangenheit, die lange Zeit nicht ernst genommen wurden.“ Die Verantwortung dafür sieht Hermann allein bei der Bahn: „Das Land kann und wird sich an zusätzlichen Kosten für Stuttgart 21 nicht beteiligen“, sagte er. Es bleibe bei der Beteiligung von 930 Millionen Euro am Bahnprojekt Stuttgart 21 und von 950 Millionen Euro für die Neubaustrecke Stuttgart-Ulm.
Stuttgart 21: Von der Unterschrift bis zur Kostensteigerung (2)
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27. November 2011Bei einer Volksabstimmung sprechen sich 58,8 Prozent gegen einen Ausstieg des Landes aus der Finanzierung des Bahnprojekts aus – und damit für Stuttgart 21.
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5. März 2013Der Aufsichtsrat der Bahn billigt die vom Vorstand vorgeschlagene Erweiterung des Finanzrahmens um zwei Milliarden auf 6,5 Milliarden Euro. Bis dahin lag das Limit bei 4,5 Milliarden Euro.
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23. Juli 2013Bahnvorstand Volker Kefer äußert öffentlich Zweifel daran, dass der Stuttgart-21-Tiefbahnhof 2021 in Betrieb gehen kann.
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19. Dezember 2013Der eskalierte Polizeieinsatz am „Schwarzen Donnerstag“ beschäftigt erneut einen Untersuchungsausschuss im Landtag. Der zweite Ausschuss soll klären, ob der damalige CDU-Regierungschef Stefan Mappus als Scharfmacher fungierte.
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20. April 2014Die Projektpartner beschließen Verbesserungen für den Anschluss des Bauvorhabens an den Landesflughafen, darunter ein drittes Gleis am Terminal-S-Bahnhof für 80 Millionen Euro.
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18. November 2015Das Verwaltungsgericht Stuttgart erklärt den Wasserwerfer-Einsatz gegen die Demonstranten 2010 für rechtswidrig.
Die Finanzierungsvereinbarung zwischen Bahn und Projektpartnern aus dem Jahr 2009 beläuft sich auf insgesamt 4,5 Milliarden Euro. 2011 hatte die grün-rote Landesregierung diese Finanzierungsvereinbarung mit zur Grundlage der Volksabstimmung über die Weiterführung von Stuttgart 21 gemacht.
Kretschmann will nicht zahlen
Die Bahn ihrerseits hat bereits Ende 2016, als absehbar war, dass der Rahmen mindestens um zwei Milliarden Euro würde überschritten werden, die Projektpartner auf die Übernahme von Mehrkosten verklagt. Diese wiederum pochen auf den vereinbarten Kostendeckel und lehnen eine Beteiligung ab. Dies bestätigte gestern auch erneut Regierungschef Winfried Kretschmann (Grüne). „Welche Zahlen auch immer am Ende bestätigt werden, es bleibt dabei: Bauträger ist die Bahn, verantwortlich sind daher die Bahn und der Bund.“ Daran ändere auch die für den Fall von Mehrkosten zwischen Bahn und Projektpartnern vereinbarte Sprechklausel nichts: „Die Sprechklausel verpflichtet nur zum Sprechen. Sie verpflichtet aber nicht zum Zahlen. Sonst hieße sie Zahlklausel“, sagte der Ministerpräsident.
Die Sprechklausel
Beim Streit um die Kosten wird immer wieder die Sprechklausel zitiert. Was ist das? Die sogenannte Sprechklausel findet sich im Finanzierungsvertrag zu Stuttgart 21 aus dem Jahr 2009 und wird sehr unterschiedlich interpretiert. In Paragraf acht, Absatz vier, steht: „Im Fall weiterer Kostensteigerungen nehmen die Eisenbahninfrastrukturunternehmen und das Land Gespräche auf.“ Aus Sicht der Bahn beinhalten Gespräche auch eine daraus folgende finanzielle Mehrbeteiligung vor allem des Landes und der Stadt Stuttgart. Dies lehnen die Stuttgart-21-Projektpartner allerdings vehement ab. Sie pochen darauf, dass die Klausel lediglich zum Sprechen auffordert. (dpa)
Auch die Landtagsfraktionschefs von Grünen und FDP, Andreas Schwarz und Hans-Ulrich Rülke, lehnten eine weitere finanzielle Beteiligung des Landes und der Partner strikt ab. „Wir sind empört über die Kostenexplosion. Es bleibt ohne Wenn und Aber beim Kostendeckel“, sagte Schwarz und verlangte von der Bahn Auskunft über die Kosten und weitere Risiken. Und Rülke sagte unserer Zeitung: „Für das Land bedeuten diese Mehrkosten zunächst nichts. Stuttgart 21 ist und bleibt ein Infrastrukturprojekt der Bahn.“
Auch der Bund der Steuerzahler kritisierte die Kostensteigerung und warnte davor, dem Steuerzahler weitere Zahlungsverpflichtungen aufzubürden. Auf keinen Fall sollten die Projektpartner zusätzliche Kosten übernehmen, sagte Zenon Bilaniuk, stellvertretender Landesvorsitzender des Bunds der Steuerzahler Baden-Württemberg. „Der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 lag der bisherige Kostenrahmen zugrunde. Dabei muss es bleiben“, sagte er.
Stuttgart 21: Von der Unterschrift bis zur Kostensteigerung (3)
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20. Januar 2016Der zweite Untersuchungsausschuss zu S 21 legt sein Ergebnis vor. Ein möglicher Einfluss von Ex-Regierungschef Mappus auf den harten Polizeieinsatz gegen S-21-Gegner bleibt umstritten.
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2. Mai 2016Im Koalitionsvertrag von Grün-Schwarz heißt es zu Stuttgart 21: Das Land hält an dem Ziel fest, sich nicht über die zugesagten 930 Millionen Euro hinaus an dem Vorhaben zu beteiligen.
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5. Juli 2016Es geraten Inhalte des Prüfberichts des Bundesrechnungshofes zu Stuttgart 21 an die Öffentlichkeit. Danach könnte das Vorhaben bis zu zehn Milliarden Euro kosten.
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16. September 2016Die Bahn feiert die Grundsteinlegung für die riesige Betonplatte – das Fundament für Gleise und Bahnsteige.
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23. Dezember 2016Die Bahn reicht Klage beim Verwaltungsgericht Stuttgart ein, um Projektpartner, darunter das Land, dazu zu verpflichten, sich an Mehrkosten bei S21 zu beteiligen.
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29. November 2017Stuttgart 21 wird gut eine Milliarde Euro teurer. Die Bahn erwartet einen Kostenrahmen von 7,6 Milliarden Euro.
Stuttgarts grüner Oberbürgermeister hatte gestern eigentlich andere Sorgen. Mit den Vertretern von 200 Kommunen diskutierte Fritz Kuhn im Rathaus ausgerechnet über Verkehrs-, Umwelt- und Mobilitätskonzepte der Zukunft und über den Einsatz der Mittel, die der Bund den Kommunen im Kampf gegen die Feinstaub- und Stickstoffbelastung in Aussicht gestellt hat, als ihn die Nachricht aus Berlin ereilte. „Das ist kein guter Tag für Stuttgart“, sagte er und meinte damit nicht, dass die Stadt gestern wieder einmal Feinstaubalarm ausrufen musste. „Wenn die Kosten für Stuttgart 21 weiter steigen und das Projekt ab heute Stuttgart 24 heißt, sind das schwierige und schlechte Nachrichten für uns“, sagte er. „Stuttgart 21 ist nicht nur ein verkehrliches, sondern auch ein bedeutsames städtebauliches Projekt für die Stadt. All das verschiebt sich nun möglicherweise um mehrere Jahre.“ Von der Bahn forderte der OB, dass das Gutachten schnellstmöglich „auf den Tisch kommt.“
Gegner des Projekts riefen unterdessen gestern in Stuttgart erneut dazu auf, die Notbremse zu ziehen und Alternativen weiterzuverfolgen. „Wir brauchen jetzt einen harten Schnitt statt weitere Salamitaktik bei den Kosten“, fordert Matthias von Herrmann, Pressesprecher der Parkschützer. „Stuttgart 21 muss beendet werden“, sagt von Hermann, der auf das parallel zum Fortschritt der Bauarbeiten weiterentwickelte Alternativ-Konzept „Umstieg 21“ verwies.

Baden-Württembergs früherer Regierungschef Stefan Mappus (CDU) räumte unterdessen Ratlosigkeit und Fehler beim Umgang mit dem umstrittenen Bahnprojekt ein. „Stuttgart 21 hätte von Anfang an viel besser kommuniziert werden müssen, sei es durch Veranstaltungen, Mediation oder Liveübertragungen“, sagte Mappus nach einem Bericht von „Stuttgarter Zeitung“ und „Stuttgarter Nachrichten“. „Das haben wir bei Stuttgart 21 nicht gemacht und auch nicht hinbekommen.“ Auf dem Höhepunkt der Proteste im August und September 2010 sei die von ihm geführte Landesregierung „ziemlich ratlos“ gewesen.
Bei der Räumung des Schlossgartens für das Bahnprojekt waren am 30. September 2010, dem „Schwarzen Donnerstag“, Polizisten mit Wasserwerfern, Schlagstöcken und Pfefferspray gegen Demonstranten vorgegangen. Wie sich die Situation rund um den geplanten Bau derart hochschaukeln konnte, kann sich Mappus demnach noch immer nicht erklären. „Wir hatten nicht die Absicht, ein Atomkraftwerk mitten in der City zu bauen“, sagte Stefan Mappus. „Es ging immer nur um einen Hauptbahnhof.“
"Die Bahn setzt auf eine Salamitaktik"
Carola Eckstein, 44 Jahre, ist Stuttgart-21-Aktivistin der ersten Stunde. Die Mathematikerin kritisiert die steigenden Kosten und fordert einen Projektabbruch.
Frau Eckstein, hat Sie die Kostenexplosion bei Stuttgart 21 überrascht?
Nein, mich hat das nicht mehr überrascht. Es ist traurig aber wahr. Die Verantwortlichen bei der Bahn haben sich für eine Salamitaktik entschieden. Jedes Jahr wird es eine Milliarde mehr. Seriöse Quellen wie der Bundesrechnungshof oder die Verkehrsspezialisten des Beratungsbüros Vieregg-Rössler gehen von Kosten in Höhe von zehn Milliarden Euro aus. Die Politik muss endlich der Wahrheit ins Auge sehen und darf sich nicht mit Salamischeiben abspeisen lassen. Das Projekt ist sowohl von den Kosten als auch von der Technik meilenweit entfernt von Wirtschaftlichkeit – und von Sinnhaftigkeit sowieso.
Wie kann es nun weitergehen?
Es gibt nun die Chance, das verbuddelte Geld sinnvoll zu nutzen. Das Verkehrs- und Feinstaubdrama muss beendet wären. Es wäre zum Beispiel sinnvoll, eine neue S-Bahn-Linie von den Fildern ins Neckartal zu bauen. Selbst wenn Stuttgart 21 jemals fertig würde, würde dies nicht helfen gegen überfüllte S-Bahnen. Man kommt ja teilweise bei Feinstaubalarm kaum in die S-Bahn rein, wenn man zur Arbeit muss. Das alles wäre ein Anlass, sich mit dem Projekt Umstieg 21 zu beschäftigen. Ziel dieser Initiative ist es, das Projekt Stuttgart 21 abzubrechen und die durchgeführten Baumaßnahmen in ein neues Verkehrsprojekt einfließen zu lassen.
Gehen Sie davon aus, dass man zumindest die zehn Milliarden und den Eröffnungstermin 2024 halten kann?
Nein. Ich gehe davon aus, dass die Kosten weiter steigen werden. Und auch den Eröffnungstermin halte ich für unrealistisch. Die Bahn drückt sich seit Jahren um die ingenieurtechnisch kritischen Stellen wie die Neckerunterquerung. Die Situation ist von der Logistik her fast mit Rastatt vergleichbar, wo die Rheintalbahn wochenlang nicht fahren konnte. Das Projekt ist katastrophal schlecht geplant. Deshalb halten sich die Baufirmen auch bewusst mit der Annahme von Aufträgen zurück. Es geht seit Jahren nur noch darum, wer den schwarzen Peter in die Hand nimmt. Jeder hofft, dass der Kelch an ihm herübergeht und dass der große Knall erst kommt, wenn er nicht mehr im Amt ist.
Was bedeutet die aktuelle Entwicklung für den Widerstand?
Wir werden weiter dafür kämpfen, dass nicht noch mehr öffentliches Geld sinnlos vergraben wird und nicht noch mehr kaputt gemacht wird. In Stuttgart herrschen Stillstand und Verkehrschaos. Das Problem ist, dass die sinnvollen Verkehrsprojekte nicht angegangen werden können, weil immer dieses Monstermoloch Stuttgart 21 im Weg steht. Es gibt viele sinnvolle Verkehrsprojekte, die sich schnell und kostengünstig realisieren ließen, aber wegen Stuttgart 21 auf Eis liegen.
Fragen: Ulrike Bäuerlein