„Dann gehn wir mal rein“, sagt der Mann mit der randlosen Brille über dem leicht ergrauten Bart. Die Tür in dem Altbau quietscht, das Parkett knarrt: In diesem Zimmer mit den dicken Wänden wird seit Jahrhunderten protokolliert und beurkundet. Erst setzten hier die Fürstbischöfe ihre Siegel aufs Papier, später beurkundeten Amtsnotare wie Stephan Randt, 64, Kaufverträge aller Art und Nachlasssachen. Nur noch wenige Tage, dann verlässt der frisch gebackene Doktor der Rechte für immer seine Arbeitsstube. Mit dem Ende seiner Dienstzeit verschwindet auch ein gutes Stück Tradition im Land. Denn den beamteten Notar, so wie man ihn in Baden-Württemberg seit über hundert Jahren kennt, wird es von Januar an nicht mehr geben. Dann waltet er als Selbstständiger seines Amtes. Wie jede große administrative Umwälzung hat auch diese Folgen – für die Notare im Land ebenso wie für deren Kundschaft, den Bürger. Aber dazu später.

Die Justiz spricht von einer Jahrhundertreform. Und die lässt sich schon an den Aktenbergen ablesen, die sie bewegt: Tonnenweise Grundbuchakten wurden aus dem historischen Gebäude in der Konstanzer Rheingasse 20 nach Kornwestheim ins zentrale Archiv geschafft, einer ehemaligen Salamander-Schuh-Fabrik. Der andere Teil des Archivs, die Akten des Nachlassgerichts, werden auf die andere Konstanzer Rheinseite transportiert, ins Gebäude Am Seerhein 8. Im Laufe der Jahre hatte sich im trockenen Keller des Notariats hinter eisernen Türen eine beachtliche Menge Papier angesammelt. Mit der Auflösung des Archivs geriet auch das historische Gemäuer in Bewegung. Die Erleichterung des Gebäudes lässt sich nun an kräftigen Rissen im Putz ablesen, der für den künftigen Mieter, das Amtsgericht, wieder hergerichtet wird.

Die Reform des Notariats wurde vor zehn Jahren durch die schwarzgelbe Landesregierung beschlossen. Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hatten zuvor zu erheblichem politischen Druck auf die Zukunft des Amtsnotariats geführt. Portugal hatte ein ähnliches System wie Baden-Württemberg. Das hob der EuGH auf, sodass man sich politisch zur Überführung der Notariate in die Selbstständigkeit entschied. Notariatsleiter Randt war in seiner Eigenschaft als Vizepräsident des Badischen Notarvereins an der Aushandlung des künftigen Systems beteiligt. „Wir haben immer gesagt: Das System kann bleiben, wie es ist. Aber der Staat muss mehr investieren.“ Sonst sei es nicht mehr „bewältigbar“ – personell und ausstattungsmäßig.

Eine Urkunde mit gelber Kordel und Dienstsiegel.
Eine Urkunde mit gelber Kordel und Dienstsiegel. | Bild: Sabine Tesche

Damit einher geht eine Verlagerung von Aufgaben. Wer beispielsweise einen Erbschein beantragt, geht künftig nicht mehr zum Notar, sondern zum Nachlassgericht. Für Konstanzer lautet die neue Adresse Untere Laube 12, der Sitz des Amtsgerichts. Wer eine Immobilie kauft und diese ins Grundbuch eintragen lassen will, geht weiterhin zum Notar, der dann eine entsprechende Urkunde mit Siegel und Kordel ausstellt und diese dann elektronisch an das zentrale elektronische Grundbuch übermittelt. Für die Region ist Villingen-Schwenningen nach einer politischen Entscheidung das zentrale Grundbuchamt. Es ist zuständig für Teile des Schwarzwaldes und Hochrheins sowie den Bereich Bodensee bis zur württembergischen Landesgrenze. Weitere Grundbuchämter befinden sich etwa in Sigmaringen und Ravensburg. „Eigentlich ist es immer gut, wenn ein Sachbearbeiter eine örtliche Beziehung dazu hat. Wenn jemand in Villingen sitzt, könnte das lokale Wissen fehlen“, findet Randt.

Der Notar in seinem Arbeitszimmer. Hier haben in früheren Jahrhunderten bereits die Fürstbischöfe Verträge besiegelt.
Der Notar in seinem Arbeitszimmer. Hier haben in früheren Jahrhunderten bereits die Fürstbischöfe Verträge besiegelt. | Bild: Sabine Tesche

Veränderungen gibt es aber vor allem für die Notare – in Baden sind es auch weiterhin 128. Das fängt bei der Besoldung an. So bezog der badische Amtsnotar bisher zwei Gehälter: ein Festgehalt aus der Richterbesoldung beziehungsweise im Fall von Stephan Randt als Vorstand des Notariats. Hinzu kamen Zusatzeinkünften aus selbstständiger Tätigkeit. „Das wird sich künftig ausgleichen,“ sagt Randt, weil die Gebühren dann allein dem Notar zustehen. Bislang hat das Land dem Notar Personal, Räume und Material gestellt. Im Gegenzug hat er dafür einen Teil seiner Gebühren abgeben müssen, den anderen Teil konnte er als selbstständige Einkünfte behalten. Das fällt nun weg: Künftig muss der Notar alles alleine bezahlen, kann aber auch alles alleine vereinnahmen. „Da wird es ein paar geben, die mehr verdienen und einige weniger“, sagt Randt. Zu den unter Notaren beliebten Standorten gehören Konstanz, München und Düsseldorf, Orte, in denen die Preise für Grundstücke durch die Decke gehen.


Die größte Justizreform, die es in Baden-Württemberg je gab


Was vor bald zehn Jahren begann, soll zum Jahresende vollendet werden: die Reform des Justizwesens
  • Grundbuchämter
    Jeder Wohnungs-, Haus- und Grundstückskauf, der in Baden-Württemberg jemals getätigt wurde, lagerte bisher in einem der 677 Grundbuchämter des Landes in Aktenform. Im badischen Landesteil waren hauptsächlich Städte und Gemeinden für die Grundbuchführung zuständig. Der Notar beurkundete entsprechende Einträge. Vom 1. Januar 2018 an finden sich sämtliche Akten im Grundbuchzentralarchiv in Kornwestheim. Das soll helfen, Platz bei den 13 Grundbuch führenden Amtsgerichten zu sparen. Diese führen das elektronische Grundbuch. Die Reform soll Kommunen finanziell entlasten, heißt es beim Justizministerium. Das Grundbuch enthält beispielsweise die Grundstücke mit Flurnamen und den entsprechenden Eigentumsverhältnissen und möglichen Belastungen.
  • Elektronisches Grundbuch
    Seit dem 1. Juli 2012 werden Änderungen im Grundbuch elektronisch erfasst. Notare müssen seitdem neue Dokumente elektronisch, also digital, übermitteln. Die Grundbuchämter bearbeiten neue Vorgänge daher nur noch elektronisch. Die Justizverwaltung geht davon aus, dass die elektronische Akte auf lange Sicht die Papierakte ersetzen wird. Die meisten Städte und Gemeinden bieten Bürgern die Möglichkeit, ins elektronische Grundbuch einzusehen und einfache sowie beglaubigte Kopien zu erhalten. Ab 2018 soll dies auch landesweit möglich sein.
  • Nachlassgericht
    Für die Erteilung eines Erbscheins ist das Nachlassgericht zuständig. Der Erbschein muss von den Erben beantragt werden. Das Dokument, eine Urkunde, benennt den oder die Erben und mögliche Verfügungsbeschränkungen. Von 2018 an sind – wie schon in allen anderen Bundesländern – die Nachlassgerichte bei den Amtsgerichten angesiedelt. Diese finden sich dort, wo auch Familiengerichte sind: Bad Säckingen, Donaueschingen, Freiburg, Lörrach, Konstanz, Singen, Überlingen, Villingen-Schwenningen, Waldshut, Albstadt, Bad Saulgau, Balingen, Biberach, Oberndorf, Ravensburg, Rottweil, Sigmaringen, Tettnang, Tuttlingen, Wangen i.A..
(nik)

Dass sich Notare einkommensmäßig in die Klasse der Kieferorthopäden einreihen, lässt Randt unwidersprochen. „Der Nur-Notar hat ein gutes Auskommen“, kommentiert er und verweist auf die Ochsentour, mit der man zu diesem Beruf kommt. Ein reines Jurastudium reiche da nicht, so Randt. Weitere Voraussetzungen sind zwei Staatsexamina in möglichst hohem Prädikatsbereich, künftig Assessorausbildung bei einem Notar, möglichst eine Zusatzausbildung – wie in seinem Fall im Steuerrecht. Und eine glückliche Hand bei der Bewerbung um eine frei werdende Notarsstelle. Als Standesfunktionär weiß Randt: Wenn eine Stelle ausgeschrieben wird, folgen nicht selten Konkurrentenklagen. „Warum der und nicht ich“, lautet dann die Frage, die dann vor dem Gericht beantwortet wird.


Der Klient merkt zunächst nichts

Für den Bürger ändert sich zum 1. Januar im Ablauf zunächst einmal gar nichts. Mit der Ausnahme, dass im badischen Teil das Nachlassgericht nicht mehr beim Notar ist, sondern beim Amtsgericht. Im Württembergischen Teil ist zudem noch das Betreuungsgericht (Vormundschaftsgericht) nicht mehr beim Notar. „Sonst ist für den Klienten nach Außen der Unterschied nicht merklich“, sagt Randt. Auch die Gebühren bleiben derzeit gleich.

Notar Stephan Randt geht.
Notar Stephan Randt geht. | Bild: Sabine Tesche

Doch ganz reibungslos dürfte die Jahrhundertreform nicht über die Bühne gehen. Und das wird auch der Bürger merken. Wer beispielsweise ein Haus kauft, muss heute schon mit deutlichen Wartezeiten rechnen. Der Wechsel bedeutet zur Zeit eine erhebliche logistische Herausforderung für das staatliche Grundbuchamt. „Alle Grundbuchämter sind im Bearbeitungsrückstand“, weiß Funktionär Randt. „Weil die riesige Mengen auf einmal kriegen und der Personalbestand gering ist.“ Wer also ein Haus kauft, muss damit rechnen, dass der Eigentumswechsel im Durchschnitt sechs Monate dauert, nicht selten auch länger. „Ich gehe mal hoffnungsvoll davon aus, dass man das in zwei Jahren auf dem Weg hat,“ sagt Randt. Das kann ein Problem werden. Wenn jemand beispielsweise eine Immobilie kaufen und dem bisherigen Mieter wegen Eigenbedarfs kündigen will, kann das dauern. „Das funktioniert nämlich nur, wenn ich Eigentümer bin.“ Der künftige Eigentümer muss in dem Fall versuchen, mit dem Grundbuchamt aufgrund Eilbedürftigkeit eine Regelung zu finden. „Solche Wünsche sind häufig.“

Kritisch sieht Randt aus Sicht des Notars auch den Umzug der Grundbuchakten nach Kornwestheim. Umständlich und zeitaufwendig könne das von Fall zu Fall schon werden, sagt Standesfunktionär Randt und erläutert das an einem Beispiel: „Wenn beispielsweise ein Nutzungsrecht eingetragen ist (B hat das Recht, die Räume soundso zu bewohnen), und ein Klient will wissen, wie das genau formuliert ist, wie sehen die Räume aus, wo liegen die? – Dann brauche ich dafür die Hilfsakte. Die Akten lagen vorher beispielsweise für die Konstanzer hier im Haus, für die Allensbacher und Reichenauer ebenso. Kurzum: Ich kann nicht alles aus dem elektronischen Grundbuch ersehen.“ Andere Bundesländer haben das Grundbuchamt vor Ort beim Amtsgericht eingelagert. Baden-Württemberg bevorzugt aber die zentrale Variante.

Auswirkungen dürfte der Bürger auch im Übergang des Nachlassgerichts spüren. „Durch den Wechsel im System stauen sich die Nachlassfälle bereits an“, weiß Randt. Beim Notariat Konstanz können beispielsweise bis zu 30 Todesfälle in der Woche eingehen. Bei den Amtsgerichten werden künftig Rechtspfleger die Tätigkeiten ausführen, die jede Menge zusätzlicher Arbeit durch Neufälle und komplizierte Fälle, dazubekommen. „Jetzt staut sich das, und es ist zu erwarten, dass es auch ähnlich wie beim Grundbuchamt weiter gehen wird,“ so Stephan Randt. „Es wird vorübergehend zeitliche Nachteile für die Bevölkerung geben,“ prophezeit er in seiner Eigenschaft als Vizepräsident des badischen Notarvereins. „Das ist ein Jahrhundertwerk, über das wir da reden.“


Das Dienstsiegel

Das Siegel eines Notars
Das Siegel eines Notars | Bild: euthymia - stock.adobe.com
  • Wozu ein Dienstsiegel?
    Das Siegel ist Zeichen der Befugnis, etwas zu beglaubigen. Denn an der Urkunde des Notars hängt der sogenannte Glaubensschutz: Darin bestätigt der Notar im Auftrag des Staates einen bestimmten Vorgang. Eine bloße Unterschrift würde der Fälschung Tür und Tor öffnen. Durch das Siegel, das dem Notar verliehen wird, kann er sich legitimieren. Er muss es am letzten Tag seiner Tätigkeit abgeben.
  • Entwicklung
    Während Dienstsiegel in früheren Jahrhunderten allein dazu dienten, Schriftstücke gebündelt zusammenzuhalten, wurde daraus eine Art Bescheinigung für die Echtheit des Dokuments. In der Antike wurden sie von Herrschern verwendet, seit dem Mittelalter dann von den Amtskirchen. Wird ein Dienstsiegel manipuliert, liegt ein Siegelbruch vor, der ebenso strafbar ist wie dessen missbräuchliche Verwendung.
  • Strafen
    Dienstsiegel gibt es in allen Ländern. Sie werden entweder mit Tinte auf Papier aufgetragen oder es wird das sogenannte Prägesiegel verwendet, das mit einer Maschine aufgetragen wird: So werden die Seiten zusammengebunden, darauf kommt eine Art papierne Oblate, und darauf wird das Prägesiegel gedrückt. Auf dem Siegel steht bisher „Notariat Konstanz“. Künftig enthält das Siegel den Notarsnamen.
(nik)

Nochmal an die Uni

Randt ist gerade 64 geworden – ein Alter, in dem sich auch Beamte eigentlich noch nicht zur Ruhe setzen. Er selbst müsste noch anderthalb Jahre arbeiten bis zum Erreichen der Pensionsgrenze. Während sich die meisten jüngeren Kollegen auf die Selbstständigkeit freuen, weil sie sich davon auch mehr Entlastung etwa durch das Einstellen zusätzlicher Schreibkräfte erhoffen, startet Randt eine zweite Karriere. „Ich gehe wieder an die Uni“, sagt er und lacht. Diesmal allerdings nicht als Student. Ab Januar wird er Lehrbeauftragter für die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Konstanz, hält Vorlesungen und Seminare. Und weil ein Notar nur sehr selten etwas aus dem Bauch heraus entscheidet, hat er diesen Weg sauber vorbereitet. In den vergangenen Jahren hat er sich wieder ins Studium vertieft und über neue Testamentsformen promoviert. Auf den ersten Blick eine scheinbar trockene Materie. Doch das Thema brennt vielen unter den Nägeln. In seiner Doktorarbeit hat Randt Gedanken entwickelt, wie man Fehler bei handschriftlichen Testamenten vermeiden könnte. Der Abschluss summa cum laude zeigt, dass Musik darin steckt. Für Randt, der seinen Schreibtisch in wenigen Tagen räumen wird, steht nun noch ein großer Termin an: Er muss am 30. Dezember sein Dienstsiegel abgeben. Ohne Siegel – kein Notar.