Timo P. ist nervös. Der 25-Jährige will am liebsten gleich aussagen. Doch Richter Stefan Bürgelin will erst die Biografie aller Angeklagten erfassen. Am Tag zwei der Mammutverhandlung um die Freiburger Gruppenvergewaltigung geht es so zäh weiter wie am ersten Tag. Elf Angeklagte müssen zu ihrer Kindheit und Vergangenheit befragt werden. Die Geschichten der Angeklagten aus Syrien, die bisher ausgesagt haben, weisen viele Parallelen auf. Flucht aus Syrien, meist alleine als Minderjährige nach Deutschland. Auffällig viele haben angeblich am 1. Januar Geburstag, wollen auch auf Nachfrage des Richters, ob dies mit den Asylanträgen zusammenhänge, kein anderes Datum nennen. Schwierigkeiten mit der Integration, abgebrochene Schul- oder mittelmäßige Hauptschulabschlüsse, Missbrauch von Alkohol und Drogen, kleinere Vorstrafen.

Ein weiterer Angeklagter wird zu seinem Platz im Gerichtssaal gebracht.
Ein weiterer Angeklagter wird zu seinem Platz im Gerichtssaal gebracht. | Bild: Patrick Seeger/dpa

Yahia H. ist aber der erste, der die Fragen des Richters bereitwillig beantwortet, der erzählt, was die anderen nicht sagten – was er als Kind erlebt hat in Syrien: wie andere getötet werden.

Angeklagter: „Das ist normal bei uns, da ist Krieg und jeden Tag sterben Leute“

Alle, die hier sitzen, haben das erlebt, sagt er – und meint seine sieben syrischen Mitangeklagten. „Das habe ich bisher noch nicht gehört in dieser Verhandlung“, antwortet Bürgelin. Yahia erzählt von Bomben, die hochgingen, als er mit seiner Familie im Auto unterwegs war. Wie er als Zwölfjähriger mithelfen musste, Verletzte und Tote wegzutragen.

Einige der Angeklagten verstecken ihre Gesichter hinter Aktenordnern, um sich vor den Kameras zu schützen.
Einige der Angeklagten verstecken ihre Gesichter hinter Aktenordnern, um sich vor den Kameras zu schützen. | Bild: Patrick Seeger/dpa

Seine Familie schickte ihn nach Deutschland, er flüchtet über die Seeroute nach Griechenland und schlägt sich durch. Seine Eltern und Geschwister sollten nachkommen, doch sie bleiben in der Türkei zurück. Zwei Brüder sind mit ihm in Deutschland, einer übernimmt die Vormundschaft für den Jugendlichen, der seine Pflegefamilie zunehmend ablehnt. Er bricht die Schule ab, sie gehe ihm zu lange, heißt es in dem Bericht über ihn. Yahia will sein eigenes Geld verdienen, seine Freundin heiraten, „ein normales Leben führen“, sagt er. Stattdessen begann er Drogen und Alkohol zu konsumieren – „falsche Kollegen“ hätten ihn dazu gebracht. Wer sie sind, will er nicht sagen. Jetzt hat Yahia Angst, er könnte länger im Gefängnis bleiben müssen als nur während der Untersuchungshaft. Oder abgeschoben werden – zurück nach Syrien.

Tatort Hans-Bunte-Strasse: An der Straßenecke in einem Gebüsch soll eine 18-Jährige vergewaltigt worden sein.
Tatort Hans-Bunte-Strasse: An der Straßenecke in einem Gebüsch soll eine 18-Jährige vergewaltigt worden sein. | Bild: Patrick Seeger/dpa

Anders ist das mit Timo P. Der einzige Deutsche unter den elf Angeklagten in der Verhandlung um die Gruppenvergewaltigung einer 18-Jährigen im vergangenen Oktober neben der Freiburger Diskothek verhaspelt sich immer wieder in seinen Sätzen. „Ich nicht gut darin, vor so vielen Menschen zu sprechen“, sagt er entschuldigend.

Mutter war drogenabhängig

Doch auch seine Geschichte scheint die eines verlorenen Mannes. Einer, der mit einer drogenabhängigen Mutter aufwuchs, ins Heim kam, „in falsche Kreise“ geriet, wie er sagt. Er beginnt mit Drogen, erst Marihuana, dann auch Koks. Als Kind wird bei ihm ADHS festgestellt, er wird mit Ritalin behandelt. „Ich habe nie etwas gelernt, aber trotzdem immer gearbeitet“, sagt der 25-Jährige, der in Nordrhein-Westfalen und später in Baden-Württemberg aufwuchs. Die Rückkehr zu seiner Mutter scheitert, weil er Drogen nimmt. Die Schule macht er nicht zu Ende, „aus Dummheit“, wie er sagt. 2010 wird er wegen Körperverletzung und Raub verurteilt, die Jugendstrafe von 14 Monaten sitzt er ab. Er versucht ein neues Leben zu beginnen, kehrt zu seiner früheren Pflegefamilie zurück, lernt seine heutige Verlobte kennen, jobbt im Trockenbau, bei Fenstermontagen, als Kochhilfe. Doch immer wieder gibt es Zwischenfälle. Als ein Mann über ihn lacht, als er mit seiner Freundin streitet, schlägt er ihn. Aber ein Aggressionsproblem habe er nicht. Wegen Graffiti und Sachbeschädigung bekommt er eine Geldstrafe. Die Drogen werden härter, bis hin zu Speed und Ecstasy.

Akten liegen vor Prozessbeginn im Gerichtssaal des Freiburger Landgerichts.
Akten liegen vor Prozessbeginn im Gerichtssaal des Freiburger Landgerichts. | Bild: Patrick Seeger/dpa

Genauer will Richter Bürgelin nicht darauf eingehen, es scheint einen Zusammenhang zum Tathergang zu geben. Doch Timo P. will heute ein anderer sein, in der U-Haft keine Drogen angerührt haben. Auch er hofft auf ein normales Leben, will seine Verlobte heiraten, „Kinder machen“. Er ist es auch, der sich als einziger der elf Angeklagten zu den Tatvorwürfen äußern will. Er muss sich gedulden – bis der Prozess am 10. Juli fortgesetzt wird.

Anfeindungen gegen Pflichtverteidiger

Es ist ein ungewöhnlicher Hinweis, den Richter Stefan Bürgelin in der Verhandlung macht. „Bei diesem Verfahren ist Zurückhaltnug geboten“, sagt der Richter zu Beginn des zweiten Verhandlungstags. Die Medien sollten sich „nicht zu sehr auf die Verteidiger einschießen, die nur ihrer Pflicht nachkommen“, betont Bürgelin.

Anwältin Kerstin Oetjen ergreift das Wort und beklagt sich, weil sie sich von einer Zeitung falsch zitiert fühlte. Sie verteidigt Alaa A. – jenen Mann, der Opfer Franziska W. Ecstasy-Tabletten verkaufte, bevor er sich später an der 18-Jährigen vergangen haben soll.

Die Verteidigerin spricht von anyonymen Anrufen und Bedrohungen „auf die schmutzigste Art und Weise“. Sie betont, dass sie als Pflichtverteidigerin beigestellt worden sei, ihr Mandat in diesem Fall nicht ablehnen könne. „Wir müssen uns vergegenwärtigen, was wir haben wollen hier in Deutschland. So etwas wie die Scharia? Oder haben wir hier noch Gerichtsverfahren. Dann muss einem Angeklagten ein Verteidiger beigestellt werden“, betont sie.

Oetjen geriet in die Kritik, weil sie vorab die Glaubwürdigkeit des Opfers in Frage stellte. „Wir haben eine Geschädigte, die sich nur an den ersten Mann erinnert. Sie stand unter Drogen“, sagt sie am zweiten Prozesstag erneut. „Wir sind angewiesen auf die Beweisaufnahme.“

Aufgabe eines Verteidigers sei es nun einmal, einen Angeklagten angemessen zu vertreten.