Die meisten Archivare sind fleißige und stille Arbeiter. Sie befassen sich gerne mit dem Mittelalter und verbreiten ihre Kenntnisse in schmalen Aufsätzen, die in Kleinauflage erscheinen. Jürgen Klöckler ist deutlich anders gelagert.
Der Stadtarchivar von Konstanz hat sich auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts spezialisiert – mit allen Gefahren und Lockungen, die die jüngere Geschichte bei Älteren hervorruft.
Vor einem Jahr recherchierte er das Leben von Willi Hermann, der zahlreiche bekannte Fasnachtslieder geschrieben hatte. Das Ergebnis griff tief in die Narretei ein: Bekannte Gesänge dieses Komponisten werden offiziell nicht mehr gesungen, aus dem Programm der SWR-Fernsehfasnacht wurden sie schnell entfernt.
Jürgen Klöcklers Forschungen waren im Frühjahr 2018 durch eine Anfrage des SÜDKURIER angeregt worden. Innerhalb weniger Wochen schaffte der Professor, was man nur mit guten Beziehungen zu anderen Archiven schafft: Er konnte einen nahezu lückenlosen Lebenslauf der berühmten Hit-Schreibers vorlegen, der vor allem die Jahre vor 1945 einschloss.
Andere Historiker lehnten dankend ab
Denn das war das Merkwürdige aller bisherigen Versuche: Das Leben von Willi Hermann, der im Kreis Konstanz tief verwurzelt war, begann scheinbar erst nach dem Weltkrieg. Die Jahre vor 1945 bildeten einen blinden Fleck.
Alle bisher Befragten wussten nichts oder gaben vor, nichts zu wissen. Wobei der Drang, etwas über Hermann in Erfahrung zu bringen, bisher gering war. Andere Forscher, die um Aufklärung gebeten wurden, lehnten dankend ab.

An diesem Punkt setzte die Arbeit des Stadtarchivars an. Was Klöckler damals erforschte, ist inzwischen abgeschlossen und zu Papier gebracht. Der ausgefeilte Aufsatz liegt ab September vor, berichtet er im Gespräch mit dieser Zeitung.
Im letzten Jahr hatte der Historiker manche schlaflose Nacht gehabt. Einzelne Anfeindungen blieben nicht aus. Ein älterer Herr lehnt die Hermann-Forschungen komplett ab und empfahl dem Archivar, sich doch besser um die DDR-Vergangenheit von Angela Merkel zu kümmern.
Verbreitet waren auch Anrufe nach dem Motto „Das geht doch niemanden etwas an.“ Doch da ist Klöckler entschieden anderer Meinung: „Meine Aufgabe ist die Erforschung der Konstanzer Stadtgeschichte.“ Der Autor der Narrenlieder gehört zur Stadtgeschichte. Auch ein persönliches Motiv schwingt bei Klöckler mit: „Ich will doch morgens noch in den Spiegel schauen können“, sagt er. Wenn er eine Spur hat, geht er dieser auch nach. Wegschauen kann er nicht.
Das Weinfass ist leer
Für den Stadtarchivar ist der Fall abgeschlossen. Viel mehr lässt sich kaum herausfinden. Bis auf eine Lücke im Lebenslauf kann er die Vita des Fasnachters Mitglieds der Narrengesellschaft Niederburg vollständig präsentieren.
Auch die angesehene Narrengesellschaft Niederburg, in deren Reihen Willi Hermann eine Karriere als umjubelter Büttenredner und Texter erlebte, hat sich von ihrem Haupt-Dichter distanziert. Sie gestaltetet die Konzilsfasnacht, die vom SWR dann einen Abend lang übertragen wird. Der Sender wiederum zeigte wenig Bereitschaft, sich eine NS-Diskussion ans Bein zu binden. So wurde Hermanns „Ja, wenn der ganze Bodensee ein einzig Weinfass wär“ abgesetzt – und damit das finale Stück. Das sind die offiziellen Reaktionen.
Darf man die Lieder überhaupt verbieten?
Volkstümlich rumoren die Melodien von Hermann weiter in den Köpfen und den Kehlen. Sie sind eingeübt und beliebt, auch weil sie gut gemacht sind. In Konstanz wie auch in Stockach ist die Angelegenheit nicht erledigt, wenn man in die Gassen und Kneipen hineinhört. Selbstbewusst bis trotzig wurden Hermanns Werke im Frühjahr dennoch an der Fasnacht intoniert. Das war als bewusste Demonstration gedacht nach der Weise: „Wir haben das Leid schon immer gesungen. Warum will man es jetzt verbieten?“
Jürgen Klöckler lässt sich davon nicht anfechten. Er würde den Fall erneut aufrollen, wenn die Aufgabe auf ihn zukommt. „Es gibt ein öffentliches Interesse“, gibt er zu bedenken. Ihm geht es um historische Tatsachen und nicht um die Frage, ob er mit seinen Forschungen jemanden auf die Füße tritt.
Der Fall Hermann
Willi Hermann (1907 bis 1977) war gebürtiger Stockacher. Er textete und komponierte berühmt gewordene Fasnachtslieder. Im Dritten Reich diente er als NS-Propagandaredner, war SS-Mitglied und war mit hoher Wahrscheinlichkeit an Kriegsverbrechen in Griechenland beteiligt. (uli)