Das Ausmaß ist kaum vorstellbar. Über 400 Mal soll sich ein heute 41-Jähriger aus Staufen an einzelnen Jungen vergangen haben, die zu den Tatzeitpunkten zwischen acht und 14 Jahre alt waren. Die Übergriffe reichen Jahre zurück und hielten teils über Jahre an. Mindestens vier Jungen sollen von ihm missbraucht worden sein. Einem Mann, der als Ehrenamtlicher eine Pfadfindergruppe betreute – und dort zwei seiner Opfer gefunden haben soll.
„Die Häufigkeit der Missbräuche variiert von zwei bis über 400 Übergriffen„, sagte die ermittelnde Erste Staatsanwältin Nikola Novak in Freiburg. Es dauert einen Moment, bevor die Zuhörer verstehen, was gemeint ist:“Je nach der Nähe zu den einzelnen Geschädigten kam es zu mehreren Übergriffen pro Woche.“
„Erneut steht Staufen unverschuldet in der Öffentlichkeit“
Das Schicksal der heute teils erwachsenen, teils noch jugendlichen Opfer erinnert schmerzlich an das jenes Jungen aus Staufen, der über zwei Jahre von seiner eigenen Mutter, deren Partner und pädophilen Männern grausame Vergewaltigungen über sich ergehen lassen musste. Umso wichtiger ist es Peter Egetemaier, der leitende Kriminaldirektor des Polizeipräsidiums Freiburg, zu betonen, dass kein Zusammenhang besteht: „Leider steht erneut die schöne Stadt Staufen unverschuldet in der Öffentlichkeit.“
Und es gibt eine weitere Parallele: der Haupttäter im ersten Staufener Missbrauchsfall war einschlägig vorbestraft. Der nun Tatverdächtige habe zwar keine Vorstrafen, erklärte Staatsanwältin Novak. Doch von 2004 bis 2007 habe es ein Strafverfahren wegen des Vorwurfs sexuellen Missbrauchs gegeben. Im Berufungsverfahren sei der Mann aber vom Landgericht Freiburg freigesprochen worden. „In dem Verfahren stand Aussage gegen Aussage, das Gericht konnte sich nicht von der Schuld des Angeklagten überzeugen“, beschrieb Novak den damaligen Ablauf. Die Frage, wie ein Mann, der wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht stand, ehrenamtlicher Betreuer einer Pfadfindergruppe werden konnte, konnte die Staatsanwaltschaft nicht beantworten.
Der Verdächtige war den Angaben der Staatsanwaltschaft zufolge bis 2013 als Betreuer der evangelischen Pfadfindergruppe „Lazarus von Schwendi„ tätig gewesen sein, die ihm vorgeworfenen Missbräuche reichen bis 2009 zurück. Die evangelische Landeskirche Baden hatte das Arbeitsverhältnis bereits nach Bekanntwerden des Falls bestätigt, aber betont, dass dieses schon seit Jahren nicht mehr bestehe.
Die beiden weiteren Opfer sollen aus dem privaten Umfeld des Mannes stammen. Er habe sie im „Freizeitbereich“ kennengelernt, sagte Novak dazu nur. Weitere Angaben zu den Umständen wollte sie nicht machen.
Festgenommen worden war der Verdächtige bereits am 22. Februar. „Es ist erstaunlich, dass sich das in einer Stadt wie Staufen nicht herumgesprochen hat“, sagt er dem SÜDKURIER. Immerhin habe die Polizei seither über 100 Befragungen durchgeführt. Doch erst am Wochenende drangen erste Informationen an die Öffentlichkeit. Die Ermittler wollen Spekulationen vermeiden und entscheiden sich, den Sachstand bekanntzugeben.
Mutter eines Opfers löste Ermittlungen aus
Ausgelöst hatte die Ermittlungen demnach die Mutter eines mutmaßlichen Opfers, einem heute 17 Jahre alten Jugendlichen. „Es ist ja häufig so, dass die Opfer das Erlebte nicht verarbeiten können und das irgendwann wieder aufbricht“, mutmaßte Egetemaier über den Zeitpunkt der Aussage des Jugendlichen. Den Angaben zufolge soll er im Alter von neun bis elf Jahren von seinem einstigen Betreuer missbraucht worden sein.
Fast unmittelbar rief die Kriminalpolizei eine zwölfköpfige Ermittlergruppe mit dem Namen „Burg“ ins Leben. Deren Arbeit habe sich darauf konzentriert, „mit allen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen zu sprechen, bei denen es Hinweise gab, dass sie Opfer von Missbrauch geworden sein sollten, insbesondere jene, die im Kindesalter intensiven Kontakt mit Beschuldigtem hatten“, beschrieb Chefermittler Mathias Kaiser das bisherige Vorgehen.
Gibt es weitere Opfer?
„Zum jetzigen Zeitpunkt können wir nicht ausschließen, dass es weitere Opfer gibt oder wir mit Opfern gesprochen haben, die sich bisher nicht dazu durchringen konnten, sich zu offenbaren“, so der Leitende Kriminaldirektor Egetemaier.
Bislang geht die Polizei von einem Einzeltäter aus. Der Verdächtige soll „sehr manipulativ“ vorgegangen sein und sich Kinder ausgesucht, „die er begeistern konnte“. So habe er ihnen regelmäßig Geschenke gemacht. Als er ihr Vertrauen gewonnen habe, habe er sie „in diesem Verhältnis sexuell missbraucht“ und sie dabei „im Glauben gelassen, dass diese Handlungen völlig normal seien“.
Tatverdächtiger schweigt
Bislang schweigt der Tatverdächtige allerdings und die Staatsanwaltschaft kann sich nur auf die Zeugenaussagen der Opfer stützen: „Für die geschädigten Zeugen bedeutete es eine große Überwindung und enorme psychische Belastung, ihre Aussage zu machen“, sagte Novak. Film- oder Fotomaterial gebe es hingegen nicht. Dennoch will die Staatsanwaltschaft die weiteren Ermittlungen schnell zu Ende führen und „bis Ende Juni Anklage erheben“, sagt Novak dem SÜDKURIER.
Weitere Ermittlungen laufen zudem gegen einen anderen Betreuer der Pfadfindergruppe. Der 27-Jährige soll sich an einem damals 13 beziehungsweise 14 Jahre alten Mädchen vergangen haben – zu jener Zeit, in der auch der 41-Jährige dort aktiv war. „Man kannte sich“, bestätigte Novak dem SÜDKURIER: „Aber inwieweit eine Nähe bestand, dazu kann ich derzeit keine Angaben machen.“ Der zweite Staufener Missbrauchsfall steht erst am Anfang.