Es ist nicht so, als wäre man unterm Hohentwiel Baustellen nicht gewohnt. Aufbau, Abriss, Wiederaufbau – in Singen gehört das spätestens seit der Stadtgründung zur alltäglichen Wahrnehmung. Das wiederum verwundert wenig angesichts der erst 1899 verliehenen Stadtrechte. Nicht einmal 4000 Menschen lebten damals in der durch die Industrialisierung allmählich wachsenden Gemeinde, inzwischen liegt die Zahl zwölf Mal so hoch.
Der neuerliche Umbau ist allerdings besonders augenfällig – spätestens beim Blick auf die Innenstadt. Etagenweise wird derzeit ein ehemaliges Hotel und viele Jahre als Schandfleck wahrgenommenes Hochhaus abgetragen, während der vor zehn Jahren eingeweihte Hegau-Tower in unmittelbarer Nachbarschaft eine Ahnung davon vermittelt, wie sich die Stadt den Hochbau der Zukunft vorstellt.
Bahnhofsplatz wird neu gestaltet
Ein paar Hundert Meter entfernt von der Abrissstelle wird gerade eine neue Baustelle eingerichtet. Im Prinzip wird der gesamte dem Bahnhof gegenüberliegende Gebäudekomplex für den Neubau eines Einkaufszentrums mit rund 16 000 Quadratmetern Verkaufsfläche abgetragen, zeitgleich lässt die Stadt den Bahnhofsvorplatz sowie Teile der Fußgängerzone neu gestalten.
Singener wollen Einkaufszentrum
Dreck, Staub und Lärm – die Singener werden’s ertragen, zumal sie selbst es so wollten. Vor zwei Jahren sprach sich nach einer intensiven, aber angesichts der Bedeutung des Vorhabens relativ kurzen Zeit eine deutliche Mehrheit der Stimmberechtigten für das Projekt aus. Dass erst jetzt mit den Abrissarbeiten begonnen wird, liegt paradoxerweise an der guten Konjunktur.
Die Hamburger Einkaufs-Center Entwicklung GmbH & Co KG (kurz ECE) als Investor fand niemanden, der die Planung und Projektbetreuung komplett übernahm: Die vier oder fünf Unternehmen, die für ein Vorhaben in der Größenordnung von 160 Millionen Euro (davon 90 Millionen als Baukosten) infrage kommen, waren laut ECE-Projektmanager Marcus Janko auf absehbare Zeit ausgebucht, also nahm die ECE die Sache in die eigene Hand. Das kostete Zeit, da die Gewerke nicht in Summe, sondern in Verhandlung mit einzelnen Bau- und Handwerksbetrieben festgezurrt werden mussten.
Vorläufer in Konstanz und Radolfzell
Abgesehen von seinen Ausmaßen stellt der neue Gebäudekomplex zugleich einen weiteren Baustein auf dem Weg zum Ballungsraum am westlichen Bodensee dar. Als Vorläufer zum entstehenden Singener Einkaufszentrum Cano können das ähnlich große Einkaufszentrum Lago in Konstanz, vor allem aber das Seemaxx in Radolfzell gesehen werden.
Hier wurden erstmals die strengen Regeln der Raumplanung mit ihrer Einstufung von Städten in Ober-, Mittel- und Unterzentren aufgeweicht. Dass sie nicht mehr so recht zur Lebenswirklichkeit der Menschen passen, kann besonders gut an den vor allen an Samstagen einsetzenden Käuferprozessionen etwa aus Konstanz in Richtung Stockach beobachtet werden, wo sich ein regional bedeutsames Möbelkaufzentrum entwickelt hat.
Warnung vor "Wettrüsten im Einzelhandel"
Die Entwicklung zum Ballungsraum, die sich neben dem Handel deutlich auch auf dem Wohnungsmarkt abzeichnet, rüttelt vor allem an den sich konservativ verstehenden Vertretern der Städte. Reflexartig tritt besonders der Konstanzer Gemeinderat auf, der sich die Butter nicht vom Brot nehmen lassen möchte.
Gut ins Bild passt da ein Zitat des Konstanzer SPD-Stadtrats Jan Welsch, der in der Diskussion um das Cano vor einem „besinnungslosen Wettrüsten im Einzelhandel“ gewarnt hatte und prinzipiell um die Führungsrolle der Stadt Konstanz fürchtet. „In Singen“, so warnte der Kommunalpolitiker damals, „liegen nicht nur ein paar Brotkrümel – da liegen ganze Torten.“
Städte stehen im Wettbewerb zueinander
Die Oberbürgermeister der beiden in einem historischen Wettbewerb stehenden Städte sehen den erträglichen Verlust städtischer Selbstbestimmung zugunsten der wachsenden Teilhabe an der Entwicklung eines attraktiven Ballungsraumes dagegen mit Gelassenheit.
Singens OB Bernd Häusler zeigte Verständnis für die anfängliche Empörung in Konstanz, weil „wir das vermutlich genauso machen würden“. Und der Konstanzer OB Uli Burchardt war stets bemüht, den Einspruch des Konstanzer Gemeinderats gegen das Vorhaben in Singen nicht als Affront aussehen zu lassen.
Die gelassene Haltung der beiden Oberbürgermeister entspricht ziemlich genau der des Investors. Die Befürchtung vor einem Scheitern des Cano beispielsweise im Zuge eines Wertverlustes des Franken teilt der Projektmanager Marcus Janko jedenfalls nicht.
Der Kurs sei nur einer von vielen Parameter für die Investitionsentscheidung, daneben gebe es Faktoren wie die Bedeutung des westlichen Bodensees als Zuzugsraum, das Freizeitverhalten oder etwa das Produktangebot. So erinnert Marcus Janko an Zeiten, als die Deutschen allein wegen des Kaufs von preisgünstigem Kaffee, Zucker oder Nudeln in die Schweiz pilgerten.