Mit einem strahlenden Lächeln kommt die 17-jährige Sophie Tschiskale den Gang der Nachsorgeklinik Tannheim hinunter. Gekleidet ist sie in eine sommerliche Bluse und eine Dreiviertel-Hose aus Jeansstoff. Gut sichtbar für alle trägt sie an ihrem rechten Bein eine Prothese, die Unterschenkel und Fuß ersetzt. Die junge Frau trifft sich mit dem Neurobiologen Alfred Meier-Koll und dem Elektroniker Karl-Heinz Weber.
Die beiden Wissenschaftler wollen die Prothese von Sophie Tschiskale mit dem von ihnen entwickelten Phantom-Stimulator verbinden. Klappt alles, kann die 17-Jährige zukünftig ihren amputierten Fuß und Unterschenkel wieder an der Prothese spüren.

Knapp zwei Jahre ist es her, da eröffnete ein Arzt der Realschülerin, dass sie an Krebs erkrankt war.
Oberhalb des Sprunggelenkes diagnostizierten die Mediziner einen Tumor. Als auch eine Chemotherapie nichts half, musste das Bein im Dezember 2017 unterhalb des Knies amputiert werden. In der Nachsorgeklinik Tannheim lernte Sophie im Rahmen der Jungen Reha mit der Prothese zu gehen.
Das liegt nun einige Monate zurück. Dennoch fühlt sich Sophie Tschiskale in Tannheim immer noch geborgen; ein Ort, von dem sie sagt, er sei für sie „zu einer zweiten kleinen Familie“ geworden. „Das ist schon toll“, sagt ihre Mutter, Annette Tschiskale. „Jahrelang haben wir immer wieder von Tannheim im SÜDKURIER gelesen, fanden das toll, aber es war weit weg. Und nun plötzlich sind wir selbst betroffen, sind mittendrin und können dankbar sein.“
Annette Tschiskale hat gemeinsam mit der Oma ihre Tochter nach Tannheim begleitet. Jetzt verfolgt sie gespannt die Untersuchung. Alfred Meier-Koll streicht vorsichtig mit einer weichen Kinderzahnbürste über die Haut des äußeren Oberschenkels der jungen Frau.
Sophie schaut etwas skeptisch.
„Wenn Sie etwas von ihrem Fuß spüren, ein Kribbeln zum Beispiel, dann sagen Sie mir das bitte sofort“, fordert Meier-Koll die junge Frau auf. „Ja, da!“ „Und was spüren Sie?“, hakt Meier-Koll nach, „ist es eher der Fußballen oder die Ferse?“ „Die Wade“, Sophie muss lachen und die Anspannung löst sich etwas. Rasch findet Meier-Koll weitere reflexive Stellen am Bein: oberhalb des Knies, dann auf dem Knie selbst.

Auch am Oberarm spürt die 17-Jährige Zonen ihres amputierten Fußes. Alfred Meier-Koll hat vor der Untersuchung an einem Schaubild erklärt: „In unserem Gehirn sind alle Körperregionen abgebildet. Wenn ein Körperteil nicht mehr existiert, fehlt der entsprechenden Hirnregion die Verbindung. Benachbarte Nervenstränge dringen zu den unbesetzten Synapsen vor und verbinden sich mit ihnen." So komme es, dass zum Beispiel Hautpartien auf dem Knie jetzt mit den Stellen verbunden seien, an denen im Gehirn früher die Fußregionen abgebildet waren. "Diese Phantomgefühle machen wir uns zu nutze.“

Der Neurobiologe markiert die Stellen mit einem Schminkstift auf der Haut der 17-Jährigen. Nun kommt der Elektroniker ins Spiel. Karl-Heinz Weber hat selbst vor etlichen Jahren ein Bein verloren. Durch einen Unfall musste ihm ein Unterschenkel amputiert werden. Er ist dadurch ein exzellenter Gesprächspartner für Sophie Tschiskale. Weber hat eine mit Drucksensoren präparierte Schuhsohle mitgebracht. Er wird sie später in den Schuh der Prothese einlegen.

Doch zunächst bringt er an den von Meier-Koll angezeichneten Stellen Elektroden an. „Das ist genauso, wie bei einem EKG“, erklärt er. „Ich klebe die Elektroden auf und verbinde sie mit dem Phantom-Stimulator“. Das Herzstück der Erfindung ist ein kleines Kästchen, groß wie eine Streichholzschachtel, das als Verbindung zwischen den Elektroden auf der Haut und der mit den Drucksensoren präparierten Schuhsohle angebracht wird. Mit ihm lässt sich der Druckimpuls, der von der Sohle ausgeht so dosieren, dass die Reizung in der richtigen Stärke bei den mit den Elektroden verbundenen Hautstellen ankommen.
Weber drückt Sophie Tschiskale die Sohle in die Hand. „Drücken Sie, probieren Sie aus, spielen Sie damit.“ Immer präzisier wird das Gefühl, durch die Druckimpulse den nicht mehr existenten Fuß im Gehirn zu spüren.
Die 17-Jährige lacht und findet es zunächst einfach nur „komisch“.
„Es sind genau die Stellen, an denen ich sonst immer Schmerzen spüre“, sagt sie. Schmerzen, die sie gegenwärtig mit Medikamenten bekämpfen muss. „Ich nehme überhaupt keine Schmerzmittel mehr“, sagt daraufhin Karl-Heinz Weber. Seit er den Phantom-Simulator nutze, sei das nicht mehr nötig. Eine Hoffnung mehr für die 17-Jährige.

Schließlich baut Karl-Heinz Weber die Sohle in den Prothesenschuh ein. Sophie zieht die Gehhilfe wieder an und läuft erste Schritte. „Ja, ich spüre meinen Fuß!“ „Aber wie?“, will Günter Hermann wissen. Der Leiter der Physiotherapie der Nachsorgeklinik Tannheim hat die ersten Gehversuche aufmerksam verfolgt. „Spürst du ihn genauso wie deinen gesunden Fuß?“ „Nein, irgendwie anders“. Sophie weiß den Unterschied nicht recht zu erklären. Da kommt ihr Karl-Heinz Weber mit seiner eigenen Erfahrung als Prothesenträger zu Hilfe: „Man spürt seinen Fuß geographisch. Er ist da, aber es ist anders, weil ich ihm keine Kommandos geben kann.“
Günter Hermann ist begeistert, macht erste Gehversuche zusammen mit der ehemaligen Patientin und zitiert das Motto von Tannheim: „Gehen lernt man durch Gehen.“ Dann lädt er Sophie ein: „Du kannst gerne zu einer zweiten Reha zu uns kommen. Dann können wir in der Gangschule des Lokomotioncenters von Tannheim dein Gehen mit der Prothese mit Phantom-Stimulator weiter perfektionieren.“
Die Erfindung
Der Phantom-Stimulator wurde von dem Physiker und Neurobiologen Alfred Meier-Koll aus Bodman-Ludwigshafen entwickelt. Der Elektoniker und Unternehmer Karl-Heinz Weber aus Spaichingen traf auf den Wissenschaftler, weil er selbst mit Phantom-Schmerzen durch eine Beinamputation zu kämpfen hatte. Er war begeistert von der Entdeckung Meier-Kolls und entwickelte sie zur Serienreife. Die beiden Männer gründeten in Spaichingen das Unternehmen CortiXsensorics, um den Stimulator zu produzieren und zu vertreiben. (urr)