Die Szenen sind verstörend. Ein Mann mit Kapuze über dem Gesicht marschiert während einer Polizeidurchsage bei einem Corona-“Spaziergang“ in Friedrichshafen am Montagabend plötzlich mit ausgestreckter linker Hand frontal auf die SÜDKURIER-Fotografin Lena Reiner zu und versetzt ihrer Kamera im Vorbeigehen einen Stoß mit dem Ellbogen. Ihre Videoaufnahme zeigt, wie er wenige Schritte entfernt einen Handschuh anzieht und eine weiße Vollgesichtsmaske über seinen Kopf zieht, um wieder frontal auf sie loszugehen.
„Filmst du mich? (...) Hör auf zu filmen“, herrscht er Reiner viele Male an und wird mit jedem Mal aggressiver. Dann versucht er, der Pressefotografin ihre Kamera zu entreißen. Ein weiterer SÜDKURIER-Journalist, Benjamin Schmidt, stellt sich zwischen die beiden und versucht, die Attacken des Angreifers zu unterbinden: „Das ist eine öffentliche Veranstaltung, wir dürfen filmen. (...) Geh bitte weg, lass sie in Ruhe“, versucht Schmidt die schwierige Situation zu beruhigen.
Der „Hutbürger“-Vorfall
Das Handgemenge erregt die Aufmerksamkeit von zwei Polizisten, die auf die Gruppe zukommen. Sie weisen den Angreifer kurz zurecht. Als dieser die Beamten durch die kleinen Sehschlitze seiner weißen, gespenstisch wirkenden Maske erkennt, entfernt er sich sofort einige Meter.
Dann drehen beide Polizeibeamte dem Störer den Rücken zu, um mit den Journalisten zu sprechen. Wieder kommt der zur Gänze vermummte Mann auf die Journalisten zu und regt sich massiv darüber auf, dass er noch immer gefilmt werde. „Ja, du gehst auch zur Kamera hin“, entgegnet der SÜDKURIER-Journalist.
Die Szene erinnert an einen Vorfall in Dresden im Jahr 2018. Am Rande einer Pegida-Demonstration ging ein Mann, der einen Hut in den Farben der Deutschlandflagge trug, auf Journalisten des ZDF zu. Auch er forderte die Reporter vehement auf, ihn nicht zu filmen.
Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen unter dem Begriff „Hutbürger“. Und er machte deutlich: Natürlich darf die Presse von Demonstrationen berichten – und wenn sich jemand auf die Kamera eines Journalisten zubewegt, dann darf er auch gefilmt werden.
„Große Pressefeindlichkeit“
Auch in Friedrichshafen ließen sich die Reporter nicht einschüchtern oder provozieren, sondern blieben ruhig, selbst als der Angreifer und ein mutmaßlicher Bekannter von ihm drohten, die Journalisten zu „finden“.
Erst etwas später wurde der Störenfried vorübergehend festgenommen: Nach einem Streit mit Beamten auf der Karlstraße flüchtete der Mann zunächst, wurde allerdings kurz darauf aufgegriffen. Nun ermittelt die Kriminalpolizei gegen den 39-Jährigen wegen versuchter Nötigung und wegen Verstoßes gegen das Vermummungsverbot.
Einen Haftgrund gab es gegen den vermummten Angreifer nicht, er dürfte wieder auf freiem Fuß sein. Bei einer Verurteilung drohen dem Mann bis zu drei Jahre Gefängnis oder eine Geldstrafe. Zudem liegt eine Anzeige der betroffenen Journalistin vor.
Der zuständige Polizeipräsident Uwe Stürmer sagt im SÜDKURIER-Gespräch: „Solche Übergriffe gehen überhaupt nicht. Es ist eine große Pressefeindlichkeit da und ich sorge mich, dass sich ein Teil innerhalb dieser Gruppe deutlich radikalisiert.“ Der Vorfall sei eine bedenkliche Entwicklung, solche ‚Spaziergänger‘ dürften nicht unterschätzt werden.
In der Rückschau wirft das Geschehen von Montagabend noch einige Fragen auf. Die Polizisten schritten zwar ein, als die SÜDKURIER-Journalisten angegriffen wurde, nahmen den Mann nicht direkt fest. Warum also zieht die Polizei solche Leute nicht sofort aus einer Demo heraus, um diese zu befrieden? Polizeipräsident Stürmer argumentiert: „Jeder Polizeibeamte hat einen klaren Auftrag, der über Funk weitergegeben wird.“

Würde jeder Polizist das machen, was ihm gerade einfiele, könne ein solcher Einsatz nicht funktionieren. „Das muss koordiniert erfolgen. Wichtiger ist, dass so eine Lage registriert und über Funk gemeldet wird, wir an dem Verdächtigen dranbleiben und die Eingreifkräfte ihn rausziehen und identifizieren können.“ Stürmer betont: Das sei auch erfolgt.
Irritierend wirkte zudem für Beobachter, dass die beiden Polizeibeamten dem Angreifer scheinbar sorglos den Rücken zuwandten, um mit den beiden Journalisten zu sprechen, obwohl von ihm noch eine Gefahr ausgehen hätte können.
Damit konfrontiert, sagt Stürmer: „Ich weiß nicht, ob den einschreitenden Beamten klar war, dass es sich um Pressevertreter handelt. Teilweise haben wir auch Fremdkräfte dabei, die nicht von unserem Präsidium sind. Die Polizeibeamten haben zunächst eine Trennung herbeigeführt und sofort die Lage gemeldet, ich hab den Funkspruch gehört“, sagt der Ravensburger Polizeipräsident. Schon in der Vorwoche hatte die Polizei beim Häfler „Spaziergang“ stärkere Präsenz als zuvor gezeigt.
Organisatoren aus Reichsbürger-Szene
Zudem wird langsam auch deutlich: Die Organisatoren der „Spaziergänge“ kommen teils aus einer radikalen Szene. Nach Informationen von Monika Blank, Stadtsprecherin Friedrichshafens, ordnen die Behörden die Rädelsführer der Demonstrationen vor Ort und in Ravensburg der Reichsbürger-Szene zu.
Entsprechende Hinweise darauf, wie etwa das Verwenden der Farben der Reichsflagge in Telegram-Chats, waren zuvor auch schon bei der Recherche des SÜDKURIER aufgefallen. Anhänger dieser Gesinnung lehnen die Bundesrepublik als illegitimen Staat ab und streben danach, die Handlungsfähigkeit des „Deutschen Reiches“ wiederherzustellen.
Der baden-württembergische Verfassungsschutz bestätigte dem SÜDKURIER, dass sich im Bodensee-Raum unter anderem Reichsbürger und Rechtsradikale unter die Corona-“Spaziergänger“ mischen. Zuletzt hatten auch bekannte Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker aus weiter Ferne zur Teilnahme an „Spaziergängen“ in Ravensburg, Friedrichshafen und Wangen, wo am Montagabend 1200 Menschen unterwegs waren, aufgerufen. Warum ist die Bodensee-Region für diese Personen so attraktiv?
„Haben diese Leute im Visier“
Für den Ravensburger Polizeipräsidenten Uwe Stürmer habe dieser Personenkreis gemerkt, dass in der Region ein „Resonanzboden an Unzufriedenen“ vorhanden ist. „Das nutzen die ganz gezielt aus. Die sind nicht aus der Mitte der hiesigen Bevölkerung“, sagt Stürmer. Er spricht von Agitatoren, die versuchen, Abstandsverweigerer, Impfgegner, Esoteriker, Realitätsabstreiter und Wissenschaftsverleugner für ihre demokratiefeindlichen Ziele zu instrumentalisieren und sich an die Spitze der Bewegung zu stellen.
„Diese Agitatoren würden sich tierisch freuen, wenn es einen bürgerkriegsähnlichen Zustand geben würde. Deshalb konzentrieren wir unsere Kräfte auf jene, die möchten, dass es Gewalt auf der Straße gibt“, so der Polizeichef. Eine Reihe von ihnen konnte bereits identifiziert werden. „Wir haben diese Leute im Visier“, sagt Stürmer.