Christian Weinholds Büro ist klein – vielleicht zehn Quadratmeter. Die Datenmengen, die über seine drei aneinandergereihten Bildschirme schießen, sind dafür unermesslich groß. Der Ermittler der Kriminalpolizei Waldshut-Tiengen sichtet jeden Tag hunderte kaum erträgliche Bilder. Mit der Zeit stumpfe man ab – man gewöhne sich irgendwie daran, sagt er. Aber dass ein 14-Jähriger aus seinem Landkreis zwei Mädchen im Kindesalter sexuell missbraucht und Fotos sowie Videos davon an Pädophile im Internet verkauft hat, sei besonders – besonders schrecklich.

 

Christian Weinhold telefoniert an seinem Arbeitsplatz im Kriminalkomissariat Waldshut-Tiengen.
Christian Weinhold telefoniert an seinem Arbeitsplatz im Kriminalkomissariat Waldshut-Tiengen. | Bild: Küster, Sebastian

Die Zahl an „Kipo“-Delikten in Baden-Württemberg, also Ermittlungsverfahren gegen Tatverdächtige, die Kinderpornografie verbreiten, erwerben, besitzen oder herstellen, hat sich laut Polizeilicher Kriminalitätsstatistik (PKS) seit 2018 auf 2400 Delikte im Vorjahr ziemlich genau verdreifacht. Absoluter Hotspot in Südbaden ist dabei das Einsatzgebiet von Christian Weinhold – der Landkreis Waldshut.

Häufung am Hochrhein

Dort kamen der Kriminalhauptkommissar und sein Team allein im Vorjahr 144 Tatverdächtigen auf die Schliche – davon stammen fast ein Drittel aus Bad Säckingen. Die 17.000-Einwohner-Stadt am Hochrhein weist damit mehr Kinderporno-Delikte auf als die weit bevölkerungsreicheren Großstädte Karlsruhe, Mannheim oder Freiburg. Doch welche Erklärung gibt es für die ungewöhnliche Häufung und sind der Landkreis und die Stadt zu einer Drehscheibe für Kinderpornografie geworden?

 

Die Ermittler von Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei Waldshut-Tiengen räumen auf SÜDKURIER-Anfrage eine „beträchtliche Zahl“ an Ermittlungsverfahren im Landkreis ein. Diese überdurchschnittlich hohen Werte seien aber nur „wenig aussagekräftig“, was Umfang und Schwere der Taten betreffe. So sei der Versand eines einzelnen, häufig kursierenden Bildes im Schülerchat und dessen bewusster Besitz genauso strafbar wie das Herstellen einer Vielzahl von Fotos und Videos mit schweren Missbrauchshandlungen an Kleinkindern durch pädophile Erwachsene. „Inwieweit all diese Fälle entdeckt werden, hängt auch ein Stück weit vom Zufall ab“, sagt Kripo-Ermittler Christian Weinhold.

Es sind oft schlimme Bilder, die sich die Ermittler anschauen müssen. Aber ihre Arbeit ist wichtig. Aus den Erfolgen schöpfen die ...
Es sind oft schlimme Bilder, die sich die Ermittler anschauen müssen. Aber ihre Arbeit ist wichtig. Aus den Erfolgen schöpfen die Polizisten Motivation, stundenlang vor dem Rechner zu sitzen und kinderpornografische Fotos und Videos zu sichten. | Bild: DPA/Arne Dedert

So war es auch im Zuge einer Hausdurchsuchung nach Drogen bei einem 27-Jährigen aus dem Landkreis Waldshut, der noch bei seinen Eltern wohnt. Die Beamten stießen dabei zufällig auf fünf Festplatten mit 33.000 schockierenden Dateien an Kinder- und Jugendpornos, darunter großteils sexuell aufreizende sowie Missbrauchsbilder und -videos von Kindern unter 14 Jahre, die sexuell noch nicht mündig sind.

Eltern und Lehrer erstatten Anzeige

Laut Michael Blozik von der Staatsanwaltschaft Waldshut-Tiengen hätten im Landkreis zuletzt auch mehrfach Lehrer und Eltern das Kursieren kinderpornografischer Bilder in örtlich überschaubaren Schülerchats bei der Polizei angezeigt. Darunter waren auch Bilder von einzelnen Mitschülern, die teils Selfies in sexuell aufreizender Pose von sich gefertigt hatten.

Dieses Unrechtsbewusstsein und oft auch Kommissar Zufall dürften zu der überdurchschnittlich hohen Zahl an Ermittlungsverfahren im Landkreis Waldshut geführt haben, was aber auch Ausdruck der guten Arbeit der Behörden ist. Denn die Dunkelziffer an tatsächlicher Kinderpornografie dürfte noch weit höher liegen.

Ausreißer Bad Säckingen

Doch warum sticht im Landkreis Waldshut ausgerechnet Bad Säckingen mit landesweit überdurchschnittlich vielen Kipo-Delikten aus der Statistik heraus?

 
Ein Screenshot einer Login-Seite der Kinderpornografie-Plattform „Elysium“
Ein Screenshot einer Login-Seite der Kinderpornografie-Plattform „Elysium“ | Bild: DPA/Arne Dedert

Von den 42 erfassten Ermittlungsverfahren in der Polizeilichen Kriminalitätsstatistik (PKS) 2020 fallen laut dem zuständigen Polizeipräsidium Freiburg nur zehn auch in dieses Jahr. Beim Rest betrifft die Tatzeit das Jahr 2019 oder sogar noch früher. „Das ist darauf zurückzuführen, dass die Fälle erst in die PKS einfließen, wenn die Ermittlungen abgeschlossen sind“, sagt Polizeisprecher Mathias Albicker. Gerade bei umfangreichen Verfahren mit vielen Verfahrensbeteiligten führe das zu einer verspäteten Erfassung und verzerrten Statistik.

Durchsuchungen und Beschlagnahmungen

„Ermittlungen, beispielsweise gegen Schülergruppen, die über Messenger Kinderpornos verbreiten, lassen diese Zahlen vorübergehend in die Höhe schnellen, sind aber vom Deliktsunrecht von ganz unterschiedlichem Niveau. Das kann im nächsten Jahr schon wieder ganz anders aussehen“, sagt Ermittler Weinhold. Eine Drehscheibe für Kinderporno im Landkreis Waldshut oder speziell in Bad Säckingen sehen die Behörden nicht.

Ein Mann schaut am Computer auf eine Seite des Bundeskrimalamtes, auf der ein Stoppschild für eine Internetseite mit ...
Ein Mann schaut am Computer auf eine Seite des Bundeskrimalamtes, auf der ein Stoppschild für eine Internetseite mit kinderpornografischen Inhalten zu sehen ist (gestellte Aufnahme). | Bild: DPA/Jens Schierenbeck

Ist ein konkreter Anfangsverdacht nachweisbar, führt die Polizei nach richterlicher Bewilligung jedenfalls Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmungen von Computern, Festplatten und Smartphones bei Tatverdächtigen durch. Diese haben Kinderpornos häufig mit einer Vielzahl weiterer Personen geteilt. Die Behörden prüfen, gegen die Empfänger von kinderpornografischen Dateien Strafverfahren einzuleiten sind. Das heißt, aus einem Fall können rasch ganz viele werden, wie das auch beim eingangs erwähnten 14-Jährigen aus dem Landkreis Waldshut der Fall war.

Vom Kleinkriminellen zum Schwerverbrecher

Die Geschichte des Jungen beginnt zunächst harmlos, Kommissar Zufall hat seine Hände im Spiel. Wohl durch den Hinweis eines Geschädigten kommt die Polizei dem Jugendlichen auf die Spur, weil er Waren und Dienstleistungen, die gar nicht existieren, im Internet verhökert. Spezialisten durchsuchen daraufhin das Zimmer des 14-Jährigen. Sie beschlagnahmen Festplatten und Handys und werten sie aus.

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Plötzlich wird aus einem Kleinkriminellen ein Schwerverbrecher. Die Experten für Computerkriminalität finden nicht nur virtuelle Kryptowährungen und Kontakte zu Käufern der vermeintlichen Waren. Sie entdecken auch eine Vielzahl an Kinderpornos.

14-Jähriger missbraucht Kinder

Die Ermittler müssen feststellen: Der Jugendliche missbrauchte zwei Mädchen im Kindesalter – also unter 14 Jahren – über einen längeren Zeitraum sexuell. Er brachte die beiden Kinder dazu, von sich selbst einschlägige Fotos und Videos herzustellen und ihm zu schicken. Diese Kinderpornos bot der 14-Jährige gegen virtuelles Geld über das Internet an und fand rasch zahlungsbereite Abnehmer.

Eine DVD mit der Aufschrift “Kinderpornographie„ liegt im Laufwerk eines Notebooks.
Eine DVD mit der Aufschrift “Kinderpornographie„ liegt im Laufwerk eines Notebooks. | Bild: DPA/Uwe Zucchi

Mindestens 31 Männer zwischen 16 und 58 Jahren kauften dem Teenager aus dem Landkreis Waldshut das verbotene Material ab. Ermittler Christian Weinhold und seine Kollegen konnten alle Käufer identifizieren: 30 Tatverdächtige haben ihren Wohnsitz in Deutschland, einer in Österreich. Die zuständigen Strafverfolgungsbehörden statteten den mutmaßlichen Pädophilen einen Besuch ab.

Alter schützte vor Gefängnis

Außerdem entdeckte die Polizei, dass neben dem 14-Jährigen drei weitere Jugendliche aus dem Landkreis Waldshut nach dem selben Modus Operandi an zwei bereits identifizierte Personen Kinderpornos geschickt hatten. Das ergab am Ende mindestens 37 Strafverfahren aus einem Fall heraus.

Mit dem aus dem Verkauf der Kinderpornos erlangten virtuellen Geld verkaufte der jugendliche Haupttäter Gutscheincodes an neun Jugendliche, um seinen Ertrag in Bargeld umzuwandeln. Da diese wussten, wie der Jugendliche die Gutscheinkarten erwirtschaftete, zog dies Ermittlungsverfahren wegen Geldwäsche nach sich.

Eine Puppe liegt in einem Kinderzimmer auf dem Bett.
Eine Puppe liegt in einem Kinderzimmer auf dem Bett. | Bild: DPA/Uwe Zucchi

Das Amtsgericht Waldshut hat den 14-jährigen Haupttäter im Vorjahr nach Jugendstrafrecht schuldig gesprochen. Hinter Gitter musste er aufgrund seines jungen Alters nicht – er kam mit Bewährung, einer Geldstrafe und Schmerzensgeld davon. Die Einnahmen aus seinen Taten sowie sein Handy haben die Behörden eingezogen. Gegen insgesamt neun weitere Jugendliche hat der Richter erzieherische Maßnahmen verhängt, darunter fallen beispielsweise Sozialstunden.

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„Diese Geschichte ist außergewöhnlich“, sagt Christian Weinhold, während er seinen Notizblock auf dem Tisch ein kleines Stück zu sich hinzieht. Dass ein Teenager Kinder- und Jugendpornos im Internet verkauft, sei nicht die Regel. Denn die Abnehmer seien nur bereit Geld auszugeben, die Bilder noch nicht häufig im Internet kursierten.

Mittelalter im Internet

Das bedeutet: Ihnen muss der Kinderporno gehören – und zwar ganz allein. Es reicht nicht, wenn ein Verkäufer behauptet, exklusives Material zu besitzen. Viele Pädophile bezahlen für den Beweis, dafür muss zum Beispiel der Name des Käufers vor einem festgehaltenen Kindesmissbrauch im Video genannt werden. Manche Pädophile nehmen auch so genannte Pseudo-Überprüfungen oder Fake-Checks vor, ob der Verkäufer tatsächlich derjenige ist, für den er sich ausgibt.

Christian Weinhold ermittelt im Landkreis Waldshut nach Pädophilen, die Kinderpornos im Internet verbreiten.
Christian Weinhold ermittelt im Landkreis Waldshut nach Pädophilen, die Kinderpornos im Internet verbreiten. | Bild: Küster, Sebastian

In den meisten Fällen ist Kinderpornografie aber ein Tauschgeschäft. Mittelalter im virtuellem Raum quasi. Wer anbietet, bekommt etwas. Genau das macht die Angelegenheit für Ermittler wie Christian Weinhold so schwer. Die Kanäle, Foren, Internetseiten, auf denen Material getauscht wird, ändern sich ständig. Und: der Täter hinterlässt nur kurz seine virtuellen Fußabdrücke. Pädophile verstecken ihre echten Namen hinter anonymen Decknamen. Sie sind sichtbar. Aber auf die IP-Adresse, also den Computer-Anschluss, hat Christian Weinhold in der Regel keinen Zugriff.

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„Das ist frustrierend. Eigentlich könnte man viel mehr Kinder beschützen“, sagt der Mann mit unauffälligem, weißem Hemd. Bis vor gut zehn Jahren stiegen die Ermittlungserfolge laut Weinhold von Jahr zu Jahr deutlich an. Damals wurden die Daten von den Internetanbietern noch gespeichert und im Verdachtsfall an die Polizei weitergeleitet. Im Jahr 2010 kippte ein Gericht die sogenannte Vorratsdatenspeicherung – aus Datenschutzgründen. Seitdem werden IP-Adressen sofort gelöscht. Das behindert die Ermittlungen erheblich. Und viele Täter bleiben unerkannt.

„Ich kenne niemanden, der diesen Job länger macht“

Ans Aufgeben denkt Christian Weinhold trotzdem nicht. Er sucht die Pädos, wie er sie selbst nennt, seit elf Jahren, so lange wie kaum ein anderer seiner Zunft. „Ich kenne niemanden, der diesen Job länger macht als ich. Und ich kenne viele“, sagt er. Denn seine Arbeit ist vermutlich aufreibender, als so manche Mordermittlung.

Eine Webcam steht auf einem Computerbildschirm.
Eine Webcam steht auf einem Computerbildschirm. | Bild: DPA/Martin Gerten

Wie er es verarbeitet, sich täglich unerträgliche Kinderpornos ansehen zu müssen? Seine Dienststelle bietet psychologische Betreuung und Supervisionen an. Außerdem findet Weinhold Ausgleich im privaten Bereich, wie er sagt. „Für mich bedeutet Feierabend auch wirklich Feierabend“, erklärt der Kripobeamte.

„Beifang“ von gewöhnlichen Pornos

Damit die derzeit stark steigende Menge an Kinderpornos künftig wieder zurückgeht, brauche es mehr Aufklärung und eine Stärkung des Gefahrenbewusstseins bei Menschen, die keine pädophile Neigung haben, damit sie von solchen Inhalten Abstand nehmen und sie zur Anzeige bringen, sagt Weinhold. Denn oft seien diese Dateien nur eine Art Beifang gewöhnlicher Pornografie, die über Messenger getauscht wird. „Hier gilt es, das zu erkennen und auch zu wissen, dass man sich mit dem Besitz von Kinderpornos strafbar macht“, sagt Weinhold.

Eine beschädigte Kinderpuppe liegt am Boden vor einem Mann. Die durch sexuellen Missbrauch und Kinderpornografie zugefügten seelischen ...
Eine beschädigte Kinderpuppe liegt am Boden vor einem Mann. Die durch sexuellen Missbrauch und Kinderpornografie zugefügten seelischen Wunden sind nur schwer heilbar. | Bild: DPA/Karl-Josef Hildenbrand

Er empfiehlt allen Kindern und Jugendlichen, ihre Eltern ins Vertrauen zu ziehen, sobald ihnen etwas „komisch“ vorkommt. Aber auch die Eltern sollten mit ihren Kindern sprechen und sich gezielt Inhalte am Handy ihrer Kinder erklären lassen. „Überprüfen Sie als Eltern das Smartphone ihrer Kinder unregelmäßig. Dies sollte offen und auf einer Vertrauensbasis geschehen.“