Eine Landschaft wie aus einem skandinavischen Krimi: Karge Wiesen, dunkle Wälder, ein stiller See, darüber Nebelschwaden, nur hin und wieder dringt die Sonne durch und bringt die spätherbstlichen Farben zum Erstrahlen. Die Nacht hat den ersten Schnee gebracht. Die wenigen Menschen, die hier zu Hause sind, leben weit verstreut. Die Häuser stehen so weit voneinander entfernt, dass ein Dorf kaum auszumachen ist.

Nein, das ist nicht das Szenario eines Mankell-Krimis. Und für Grusel und Heimtücke ist es der falscheste Ort, den man sich vorstellen kann. Auch wenn Ibach durchaus filmischen Reiz hat – für einen Kommissar Wallander passiert hier einfach viel zu wenig. Um nicht zu sagen nichts. Jedenfalls im Jahr 2020 vermerkte die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) für Ibach das blanke Nichts. Keine Straftat. Und auch in den Jahren davor war nicht viel los. Ibach ist mit anderen Worten der sicherste Ort zwischen Schwarzwald, Hochrhein, Bodensee und Oberschwaben – der sicherste Ort im SÜDKURIER-Gebiet.

Es ist natürlich auch ein statistischer Zufall. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Betrugsfälle, Diebstähle, einen Verstoß gegen das Waffengesetz und einen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Mathias Albicker, Pressesprecher des Polizeipräsidiums Freiburg im Landkreis Waldshut, hat für den SÜDKURIER in den Akten geblättert.

Dieses Jahr ändert sich etwas

Was die PKS ohnehin nicht enthält sind Verkehrsdelikte, Unfälle oder Ordnungswidrigkeiten. Unfälle, besonders mit Motorrädern, gibt es auf den Schwarzwaldstraßen rund um Ibach durchaus. Und bei der nächsten PKS – fürs laufende Jahr – wird Ibach nicht mehr mit weißer Weste dastehen, kündigt Albicker schon mal an. Mindestens eine Kriminaltat wird darin auftauchen, mehr darf er nicht verraten.

Es ist trotzdem nicht nur ein Zufall, dass Ibach in diesem Jahr den Spitzenplatz in Sachen Sicherheit davonträgt. „Je kleiner der Ort, desto niedriger die Kriminalitätsrate. Man kennt sich.“ Albicker nennt gleich die plausibelste Erklärung. Dazu kommt: Das Dorf hat keinen Laden. „Ladendiebstahl ist da schon mal ausgeschlossen.“ Albicker lacht. Fluch und Segen nicht vorhandener Infrastruktur. Und Ibach liegt abseits der Durchgangsstraßen. Die L150 führt um den Ort herum. Nur wer den Ort gezielt ansteuert, kommt dort auch hin.

Schauen wir uns das mal aus der Nähe an. Bereits auf der Hinfahrt wird klar: Für eine schnelle Flucht bieten sich die gewundenen Schwarzwaldsträßchen nicht gerade an. 60 Kilometer, dafür braucht man in dieser Gegend auch mal 60 Minuten – ganz ohne Staus. Und auf sein Navi im Handy sollte man nicht angewiesen sein: Im Ibacher Hochtal versagt das Handynetz, jedenfalls das der Autorin. Der Verbrecher, wenn es denn einen gäbe, müsste hier autark zurechtkommen.

Wie leben Menschen in einem solchen Ort? Wovon leben sie?

Christina Müller, Vorsitzende der Landfrauen in Ibach
Christina Müller, Vorsitzende der Landfrauen in Ibach | Bild: Angelika Wohlfrom

Christina Müller hat schon immer in Ibach gelebt. Weggehen hat sich nicht ergeben. Schon die Eltern hatten Hof und Pension, da ist sie gerne eingestiegen. Auch weil sich der Arbeitsplatz zuhause gut mit Familie vereinbaren lässt. Mit ihrem Mann, der hauptberuflich im Forst arbeitet, bewirtschaftet sie einen von 20 Bauernhöfen in Ibach – im Nebenerwerb, wie die allermeisten hier.

Die Müllers betreiben Mutterkuhhaltung, eine tierfreundliche Rindermast: Die Kälber bleiben bei den Kühen, bis sie Rinder sind. Auf dem Tannenhof ist außerdem Platz für sieben bis zehn Gäste. Zimmer mit Frühstück bietet Christina Müller an. Gerade sind die letzten abgereist, die Wintersaison beginnt am 25. Dezember.

Drei Generationen leben auf dem Tannenhof unter einem Dach. Christina Müller genießt das. „Es ist eigentlich immer jemand da.“ Als die Kinder noch klein waren, war ihr das besonders wichtig. Wohlbehütet wachsen die Kinder hier auf, auch wenn sie in den Bus steigen müssen, um zu Schule und Kindergarten zu gelangen. Die Nachbarn haben ein Auge aufeinander. „Das ist das Schöne an einem zu kleinen Dorf. Jeder kennt jeden. Wenn hier ein unbekanntes Auto reinfährt, wird das bemerkt.“

Man kennt sich

Jeder kennt jeden, auch weil alle im Verein sind, vorzugsweise in mehreren. Christina Müller ist Vorsitzende der Landfrauen, außerdem Mitglied im Skiclub und passives Mitglied im Musikverein. „Wenn die ein Fest haben, hilft man mit. Man hilft sich einfach. Das ist das Landleben“, bringt Müller das Gemeinschaftsgefühl auf den Punkt. Das gilt laut Müller auch für Zugezogene. Wer das möchte, sei ruckzuck integriert.

Trotzdem ist nicht immer alles Friede, Freude, Eierkuchen. Helmut Kaiser weiß das. Der 63-Jährige ist seit 2019 Bürgermeister von Ibach in Ehrenamt. Zuvor war er 24 Jahre lang Bürgermeister der Nachbargemeinde Dachsberg, zehn Jahre davon Doppelbürgermeister beider Gemeinden. Trotz nur 360 Einwohner hat Ibach einen eigenen Gemeinderat, der einmal im Monat zusammenkommt. Zweimal die Woche lädt Helmut Kaiser zur Bürgersprechstunde. Da geht es um alles – vom Bauplatz und dem Nachbarschaftsstreit bis hin zum Grab. Hier sei der Bürgermeister noch Ratgeber, Vertrauter und Kümmerer, erzählt Kaiser.

Im Ehrenamt für Ibach im Einsatz ist Bürgermeister Helmut Kaiser.
Im Ehrenamt für Ibach im Einsatz ist Bürgermeister Helmut Kaiser. | Bild: Angelika Wohlfrom

Verwaltungstechnisch wird Ibach von Dachsberg aus mitbetreut. Aber man verfügt über zwei eigene Kläranlagen, einen Friedhof und eine eigenständige Wasserversorgung. Nur mit dem schnellen Internet wollte es lange nicht klappen. Doch der Bürgermeister ist zuversichtlich: Spätestens im Januar sollen die ersten Haushalte ans Glasfaserkabel angeschlossen werden. Dann endlich könnte man auch in Ibach mal darüber nachdenken, im Homeoffice zu arbeiten. In Ibach hat man andere Sorgen als die Kriminalität.

In den vier Ortsteilen Unteribach, Oberibach, Mutterslehen und Lindau leben 360 Einwohner auf 2139 Hektar Land. Die skandinavisch anmutende Weite. „Wir sind eine der am dünnsten besiedelten Gemeinden in Baden-Württemberg“, weiß Helmut Kaiser. Und noch etwas: Ibach ist auch die älteste Gemeinde im Land, 52,9 Jahre alt sind die Bewohner im Schnitt.

Die wenigen Kinder im Ort, wenn es hoch kommt sind es drei bis fünf pro Jahrgang, zieht es fürs Studium in die Städte. Viele Berufschancen für Akademiker bietet Ibach nicht – zumindest solange das schnelle Internet nicht funktioniert. Der andere Grund für die Altersstruktur sind Zuzüge älterer Menschen, die hier im Erholungsort Ibach ihren Ruhestand verbringen.

Ruhe, Erholung, gute Luft, bei klarem Wetter Alpensicht – das wird auch von Touristen im Ort gesucht. Ob das auch der ausschlaggebende Grund für den wohl prominentesten Gast war? Oder spielte doch die Sicherheit eine Rolle? Alexej Nawalny, Kremlkritiker, Anschlagsopfer, inzwischen im Straflager Pokrow 100 Kilometer von Moskau inhaftiert, wohnte vor ziemlich genau einem Jahr für fast zwei Monate in Ibach, wo es mit der Beschaulichkeit damit erstmal vorbei war.

Hubschrauber kreisten über der „Schutzperson“, dazu 20 Polizeiwagen, die die Straßen bevölkerten. Die Einsatzzentrale der Polizei fand im Ratssaal Platz. Wohl nie in seiner Geschichte war Ibach besser bewacht als im vergangenen November und Dezember. „Da war richtig was los“, sagt Kaiser und freut sich.

Im Hochtal von Ibach leben 360 Menschen, weit verstreut.
Im Hochtal von Ibach leben 360 Menschen, weit verstreut. | Bild: Angelika Wohlfrom

Warum die Wahl für Nawalnys Aufenthalt auf Ibach fiel – bei der Polizei gibt man sich da wortkarg. Der Bürgermeister, der sich zweimal länger mit Nawalny unterhalten hat, weiß da mehr. Seine Frau habe die Ibacher Ferienwohnung ausgesucht, habe ihm Nawalny – auf englisch – erzählt. Der sei übrigens freundlich, aufgeschlossen und sympathisch, habe sich bedankt für das Verständnis.

Am Ende des Ortsbesuchs kommt die SÜDKURIER-Redakteurin dann doch noch einer Untat auf die Spur. Die allerdings nicht bei der Polizei zur Anzeige kommen dürfte. „Die lachen mich ja aus“, ruft Karin Fischer aus. Die 78-jährige gebürtige Kölnerin hat vor bald einem Vierteljahrhundert ein Buswartehäuschen eingerichtet. Ursprünglich für die auf den Schulbus wartenden Kinder, inzwischen nehmen dort eher Wanderer Platz und machen bei Tee, Gummibärchen und Keksen, alles bereitgestellt von Karin Fischer, ein Päuschen.

Uriger Ort, den man in Ibach gesehen haben sollte: Das von Karin Fischer eingerichtete Bushäusle.
Uriger Ort, den man in Ibach gesehen haben sollte: Das von Karin Fischer eingerichtete Bushäusle. | Bild: Angelika Wohlfrom

Verschiedene Reise- und Wanderführer haben den besonderen Ort bereits als erwähnt und für einen Besuch empfohlen. Doch darauf kommt es Fischer nicht an. Sie freut sich mehr über die begeisterten Botschaften im Gästebuch. Inzwischen ist es Nummer 16, das draußen liegt, beziehungsweise lag. Denn seit kurzem ist es weg. Das erste Mal in 23 Jahren wurde ein Buch und das Spendenkässchen, auf das es Fischer weniger ankommt, geklaut. „Wer macht den so etwas?“, fragt sich die ältere Dame.

Karin Fischer hat das Buswartehäuschen eingerichtet und pflegt es seit bald einem Vierteljahrhundert.
Karin Fischer hat das Buswartehäuschen eingerichtet und pflegt es seit bald einem Vierteljahrhundert. | Bild: Angelika Wohlfrom

Die Bewirtung aufgeben will sie deshalb aber nicht. „Ich will ja nicht die anderen 99,9 Prozent bestrafen.“ Außerdem machen ihr die Besucher viel zu viel Freude. Junggesellenabschiede und Geburtstagsfeiern wurden schon dort abgehalten. Nawalny war natürlich auch dort.