Wenn Jan Bulla im Karate-Dojo steht, „ist alles andere weg“, sagt er. Eine Stunde versinkt der forensische Gutachter in Schlag-, Stoß-, Tritt- und Blocktechniken, hebt seine Gegner hoch und wirft sie über den Rücken zu Boden. Er handelt entschieden, schlägt zu, verletzt dabei aber niemanden. Bulla vergisst seinen Arbeitstag ganz bewusst für kurze Zeit. „Das muss sein. Sonst geht es nicht lange gut“, sagt er.

Der Psychiater blendet beim Karate Sexualstraftäter aus, die zum x-ten Mal ihrem Trieb nachgaben, lässt Sadisten zurück, die ihre Todesopfer bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten und ignoriert Pädophile, die sich an kleinen Kindern vergehen.

Schuldig oder nicht?

Bulla hat es beruflich mit schweren Gewaltverbrechern zu tun. Bulla beurteilt als forensischer Gutachter, ob Tatverdächtige hinter Gittern schuldfähig sind. Dafür begibt sich der Psychiater am Zentrum für Psychiatrie (ZfP) Reichenau auf eine Reise in die Abgründe der menschlichen Seele. Zu glauben, dass er alle Vorurteile gegenüber einem Verdächtigen abstreifen kann, ist eine Illusion. In Perfektion gelingt das nie. „Aber es ist eben meine Aufgabe, es so gut es geht zu versuchen“, sagt der Mann mit schütterem Haar und kleiner, runden Brille in die Kamera seines PCs.

Gut und Böse, Engel und Teufel, Licht und Schatten – das alles stecke in jedem von uns. Es ist ein uraltes Thema, so alt wie die Menschheit selbst. Ob unsere Schattenseite aber tatsächlich die Macht über den Körper gewinnt und ein Mensch in der Lage ist, einen anderen Menschen umzubringen – das hänge von vielen Faktoren ab.

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„Jeder kann zum Mörder werden. Die Wahrscheinlichkeit ist nur unterschiedlich groß“, sagt der 44-Jährige. Kinder, die nicht gelernt haben, Impulse unter Kontrolle zu bringen, haben ein Defizit. Und sobald viele Jahre später ein gefestigtes soziales Leben in die Brüche geht, Alkohol oder Drogen den Frust des Alltags betäuben, hat das negative Folgen.

Jan Bulla spaziert über das Gelände des ZfP Reichenau.
Jan Bulla spaziert über das Gelände des ZfP Reichenau. | Bild: Küster, Sebastian

Aktuell, so mutmaßt der forensische Gutachter, hat die Corona-Pandemie negative Auswirkungen auf potentielle Straftäter. In Zeiten, in denen von heute auf morgen alles anders ist, liebgewonnene, selbstverständliche Freiheiten völlig außer Kraft gesetzt werden, Existenzängste flächendeckend Realität sind, könnte das den Frust in uns potenzieren.

Wer sowieso schon quasi zur Risikogruppe gehört, eskaliert beim nächsten Krach. „Darauf gibt es jetzt schon deutliche Hinweise. Häusliche Gewalt hat zugenommen. Wie schwer man einen Menschen verletzt, hängt dann oft nur noch vom Zufall ab“, sagt Bulla. Serienkiller aus dem Fernsehen, die ihre Taten minutiös planen – die gebe es nur selten.

Der Psychiater spricht aus Erfahrung. Im Schnitt berät er Richter, Schöffen, Staatsanwälten, Verteidigern und Nebenklägern am Strafgericht sechs Mal im Jahr. Er muss herausfinden, ob der Verdächtige zur Tatzeit psychisch krank war und wie stark sich das auf die Tat auswirkte. Wie das geht? „Ich fühle mich in die Menschen hinein und versuche die Welt so zu sehen, wie sie es tun“, sagt Bulla.

Recht und Unrecht, Schuld und Sühne, Gefängnis oder Freiheit liegen bei seiner Arbeit nah beieinander. Wer nicht selbstbestimmt handelt oder seine Steuerungsfähigkeit verlor, darf nicht schuldig sein. So will es das Gesetz. Trotzdem urteilt Bulla nie. „Ich gebe lediglich eine Empfehlung ab und fungiere als Zeuge“, sagt er. Dennoch weiß er, wie schwer seine Meinung vor Gericht ins Gewicht fällt.

„Den Probanden erzählen lassen“

Deshalb macht sich der 44-Jährige diese Entscheidung nie leicht. Bulla wälzt die Akten, arbeitet akribisch, ist stets sorgfältig, spricht mit Kollegen, verschafft sich einen Überblick. Dann folgt das freie Gespräch mit dem Verdächtigen im Gefängnis. „Wichtig ist, dass ich den Probanden erzählen lasse. Wie ist seine Sicht der Dinge?“, sagt er.

Daneben beleuchtet Bulla auch die Lebensgeschichte. Wie wuchs die Person auf? Gab es Misshandlungen? Wurden die Schule und eine Ausbildung abgeschlossen? War die Person in der Lage eine längere Beziehung zu führen? Was ist mit Alkohol und Drogen?

Bulla bewertet, wie wahrscheinlich weitere Straftaten sind

Am Ende trägt der forensische Gutachter die Erkenntnisse der Kriminalpolizei und seine Diagnose zusammen. Jedes noch so kleine Puzzleteil wird gewendet und gedreht – bis ein homogenes Bild entsteht. Anschließend kategorisiert Bulla nach Gefahrenpotenzial, leitet ab, wie wahrscheinlich es ist, dass der Verdächtige erneut straffällig wird. Dann ist seine Arbeit beendet – vorerst.

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Die Faszination, sich Schwerverbrechern psychologisch zu nähern, bleibt dennoch. Schon der junge Bulla wollte wissen, warum Schwerverbrecher das tun, was sie eben tun. Es folgt das Studium, dann die Doktorarbeit – natürlich mit Fokus auf forensische Psychiatrie.

Der Eingangsbereich des ZfP auf der Reichenau.
Der Eingangsbereich des ZfP auf der Reichenau. | Bild: Oliver Hanser

Dass sein Alltag viel Einsatz und Belastbarkeit erfordert, leugnet Jan Bulla nicht. „Alles nur der Arbeit unterordnen, wäre aber ein schwerer Fehler“, sagt er. Ohne seine Erholungspausen und Karate würde er vermutlich irgendwann hinschmeißen – oder selbst verrückt werden?

Auf diese Frage zuckt Bulla nur mit den Schultern, grinst verschmitzt und sagt: „Wissen Sie, es gibt auch Menschen, die jeden Tag am Fließband stehen und immer die gleichen Bewegungen machen. Daran kann man auch erkranken.“