In unserer heutigen kinderarmen Zeit muten solche Zahlen imposant an: Allein die Deutsche Angestellten-Krankenkasse DAK ermöglichte von 1951 bis 1993 etwa 450.000 Kindern ihrer Versicherten einen mehrwöchigen Kuraufenthalt. Wie viele Kinder insgesamt in der Bundesrepublik – und auch der DDR – zwischen 1949 und den 90er-Jahren diese meist sechswöchige Fürsorgemaßnahme erlebten, kann man nur schätzen. Experten sprechen von acht bis zehn Millionen.

Mehr Gewicht für magere Kinder

Bis vor wenigen Jahren konnte man diese Kurangebote als Zuwendung einer neuen Wohlstandsgesellschaft auffassen, die ihren mageren Kindern nach Krieg und Hungerjahren zunächst eine Gewichtszunahme gönnen und dann meist die Heilung von leichten Atemwegserkrankungen in einem naturnahen Umfeld ermöglichen wollte. Frischluft statt Stadt – so ähnlich das Motto.

Eltern der zahlreichen weniger gut betuchten Mehrkindfamilien ergriffen diese Chance oft dankbar und setzten blindes Vertrauen in die Kompetenz von Ärzten und Heimpersonal.

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Es ist unbestritten, dass viele Kinder mit schönen Erinnerungen nach Hause kamen und sie als Erwachsene noch heute in sich tragen. Aber viele andere erlebten genau das Gegenteil: Sie litten je nach Alter unter massivem Heimweh, Einsamkeit, exzessiver Strenge, Demütigungen, Bestrafung, sexueller Misshandlung und nackter Gewalt.

Ihre Traumata trugen sie seither mit sich. Heute, im vorgerückten Alter, brechen die düsteren Erinnerungen wieder durch, werden Fragen gestellt, will man mehr darüber wissen, was damals geschehen ist und warum.

Ehemalige Kurkinder erhalten heute Antworten auf Fragen

Es sind Initiativen wie der Verein Aufarbeitung Kinderverschickung Baden-Württemberg (AKVBW), denen zu verdanken ist, dass ehemalige Kurkinder heute Antworten erhalten und zu ihrer Vergangenheit recherchieren können, dass Wissenschaftler das System der institutionellen Gewalt in Heimen erhellen. Das hilft nicht nur Menschen, die sich mit ihren Traumata jahrzehntelang alleingelassen fühlten. Es trägt auch dazu bei, heutige und auch nicht immer ideale Heimbedingungen auf menschenwürdige Behandlung und respektvolles Miteinander zu überprüfen.

Hunderte von ehemaligen Kurkindern, die in Heimen an Nord- und Ostsee, im Allgäu und im Schwarzwald Dinge erlebten, die schon damals jenseits des üblichen pädagogischen Konsenses lagen, tauschen sich heute in Foren aus, besuchen Symposien und können in Archiven nach den sie betreffenden Unterlagen suchen. Ein klarer Fortschritt, der innerhalb relativ kurzer Zeit erzielt werden konnte.

Minister Lucha fing gut an und ließ dann stark nach

Gerade in Baden-Württemberg, in dem es mit 800 bis 1000 Kinderkurheimen die meisten dieser Einrichtungen in Deutschland gab, besteht eine hohe Nachfrage nach Aufklärung. Das hat Sozialminister Manfred Lucha (Grüne) zwar schnell erkannt, Geld locker gemacht, im Landesarchiv ein im Herbst auslaufendes Projekt gestartet und einen runden Tisch aus Betroffenen und beteiligten Institutionen einberufen. Seit vier Jahren ist darüber hinaus aber kaum etwas geschehen.

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Während die CDU-geführte Landesregierung von Nordrhein-Westfalen eine Million Euro bereitstellt, um Medikamentenversuche an Kurkindern durch wissenschaftliche Expertise aufzuarbeiten, sind die den Südwesten betreffenden Untersuchungen mehr als dünn gesät. Einen Fahrplan, die in den Heimen des Südwestens herrschenden Verhältnisse zu durchleuchten, gibt es nicht. Es gibt nicht einmal genug kontinuierliche Treffen, die nötig wären, um einen roten Faden festzulegen.

Ehrenamtliche opferten viel Freizeit

Minister Lucha scheint das Thema lustlos ad acta gelegt zu haben, auch wenn er seine Sprecher in gestanzten Worten das Gegenteil verkünden lässt. Weniger das Land befördert die Aufklärung als vielmehr die Ehrenamtlichen eines Vereins, die – beruflich oft gebunden – unzählige Stunden ihrer Freizeit opfern, um Licht ins Dunkel der Kinderverschickung zu bringen und Hunderte von Mailanfragen Betroffener zu beantworten, die sich hilfesuchend an sie wenden.

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Wen kann es wundern, dass ein Vorstand irgendwann den Bettel hinwirft, zumal der kleine ministerielle Zuschuss schon inflationsbedingt zu einem Nasenwasser verkommt?

Mehr Energie und Geld sind nötig

Wenn die Landesregierung Glaubwürdigkeit beim Thema Kinderverschickung bewahren möchte, dann muss neue Energie und deutlich mehr Geld investiert werden. Sie könnte sich auch Kritikern entgegenstellen, die meinen, hier würden die Erfahrungen einer kleinen lauten Minderheit überbewertet.

Das Argument der Verdränger zieht nicht. Es wurde Gutes, Schlechtes und beides erlebt, das kann man nicht gegeneinander abgrenzen oder gar aufrechnen. Erinnerung heilt. In Bad Salzdetfurth bei Hildesheim wurde kürzlich ein Denkmal für drei Kinder eingeweiht. Sie starben dort 1969 in der Kur. Sie sollten sich nur erholen.