Die Ärzte waren schnell bei der Hand: ein wenig Asthma oder eine Dauer-Rotznase, ein eher leichter Körperbau mit ein wenig Untergewicht – das Formular für eine Kinderkur lag bereit. Den Eltern der Wirtschaftswunderjahre war das oft ganz recht: Der Nachwuchs störte oft beim Werkeln für den Wohlstand, und wenn man mal für sechs Wochen vor ihm seine Ruhe hatte, war die Zustimmung zu einer Kinderkur leicht.

Was die Kinder dann im Schwarzwald oder an der Nordsee tatsächlich erlebten, wollten hinterher die wenigsten wirklich wissen. So blieben die meisten Kinder mit ihren deprimierenden Erfahrungen allein.

Das hat sich inzwischen durch Online-Vernetzung Ehemaliger und die von den Länderparlamenten betriebene Aufarbeitung der Verschickungskultur geändert. Der SÜDKURIER hat mit fünf Ehemaligen gesprochen:

Von Westfalen in den Schwarzwald

Karl-Heinz Senkpiel-Tügel, 61: Die meisten Menschen in Deutschland verbinden mit dem Schwarzwald vermutlich angenehme Gefühle. Bei dem pensionierten Verwaltungsbeamten aus Bad Oeynhausen in Ostwestfalen ist es anders. Als Sechs- und Siebenjähriger erlebte er den Schwarzwald als „Horror“, wie er in Erinnerungen an zwei Kinderkuren 1969 in Furtwangen und 1970 in St. Blasien erzählt.

Karl-Heinz Senkpiel-Tügel (61) lebt heute als Pensionär in Bad Oeynhausen.
Karl-Heinz Senkpiel-Tügel (61) lebt heute als Pensionär in Bad Oeynhausen. | Bild: Karlheinz Senkpiel-Tügel

Vor allem das „Haus Westfalia“ in St. Blasien erscheint mehr als 60 Jahre danach als finsterer Ort deprimierender, trister Erfahrungen.

„Haus Westfalia“ in St. Blasien. Es war bis 1978 ein Kinderkurheim. Danach wurde es mehr verkauft. Im Januar brannte es ab.
„Haus Westfalia“ in St. Blasien. Es war bis 1978 ein Kinderkurheim. Danach wurde es mehr verkauft. Im Januar brannte es ab. | Bild: Karlheinz Senkpiel-Tügel

„Von 12 Uhr bis halb vier wurden wir nach dem Essen zum Schlafen in die Betten geschickt.“

Brettspiele gab es nicht, zum Lesen nur zerschlissene Bände. „Schick mir doch bitte 5 von meinen Fix-und-Foxi-Heften“, schreibt der Junge in Schönschrift an seine Mutter daheim. Vom täglichen Spaziergang berichtet die Postkarte, so wie es in vielen Heimen in Ermangelung zeitgemäßer pädagogischer Ansätze bleierne Routine war.

Als Grundschüler mit etwa 7 Jahren.
Als Grundschüler mit etwa 7 Jahren. | Bild: Karlheinz Senkpiel-Tügel

Für die Kinder dehnte sich die Zeit zur gefühlten Ewigkeit. „Ich weiß nicht mehr, wann es war, aber einmal sind wir zu einem Kreuz hoch auf den Berg gewandert“, berichtet der Junge auf seiner Karte.

Ein Postkarte, die Karl-Heinz Senkpiel-Tügel 1970 an die Eltern in Ostwestfalen schrieb.
Ein Postkarte, die Karl-Heinz Senkpiel-Tügel 1970 an die Eltern in Ostwestfalen schrieb. | Bild: Karlheinz Senkpiel-Tügel

Der Hof vor der herrschaftlichen Schwarzwald-Villa war ohne Spielgeräte nur asphaltiert, selbst bei großer Sommerhitze war ein Besuch des nahe gelegenen Freibads tabu. „Für den Eintritt hat es bei einem von der Barmer Ersatzkasse veranschlagten Tagessatz von 12,50 Mark wohl nicht gereicht“, vermutet der Pensionär heute.

Heimleiter war pädagogischer Laie und ohrfeigte lieber

Der Heimleiter (damals 57) und seine Frau verfügten offensichtlich über keinerlei pädagogische Ausbildung. „Auch eine Großmutter führte noch ihr Regiment“, berichtet der Westfale dem SÜDKURIER am Telefon. „Vor einem weinenden Jungen packte sie seinen Koffer und drohte, ihn aus dem Haus zu werfen.“ Wer nachts nicht parierte, musste damit rechnen, in den Keller gesperrt zu werden. Auch Ohrfeigen sah der Junge mit an.

Offenbar hatte die Krankenkasse keine Kenntnis davon, dass der Heimleiter sein Gewerbe, das er seit 1951 ausübte, jahrzehntelang nicht amtlich angemeldet hatte, wie aus dem Register im Stadtarchiv St. Blasien hervorgeht.

Das „Haus Schwoerer“ in Lenzkich-Saig am Titisee auf einer alten Postkarte.
Das „Haus Schwoerer“ in Lenzkich-Saig am Titisee auf einer alten Postkarte. | Bild: Archiv Alexander Michel

Erst im Januar 1978 wurde das „Kinderkurheim“ amtlich vermerkt, wobei als Gegenstand des Gewerbes lediglich „Beherbergung“ angegeben ist. Im Sommer 1979 wurde das Haus geschlossen. Das Gebäude, zum Schluss als „Villa Ferrette“ bekannt, brannte im Januar bis auf die Grundmauern nieder.

Vom Südschwarzwald nach Westfalen

Regina Gräbner, 57: Wenn die Frau aus Denzlingen bei Freiburg den Eindruck hat, dass etwas schöngeredet wird, packt sie die Wut. Die Wurzel dafür liegt in der Kindheit, genauer: im Haus „Hamburg“, damals einem Kindererholungsheim der Krankenkasse DAK in Bad Sassendorf bei Soest in Westfalen.

Regina Gräbner (57) wurde sogar zweimal für sechs Wochen in ein Kinderkurheim geschickt.
Regina Gräbner (57) wurde sogar zweimal für sechs Wochen in ein Kinderkurheim geschickt. | Bild: Regina Gräbner

Obwohl es die sechs Wochen dort als von Heimweh erfüllte Qual empfand, musste das Mädchen auf Weisung der Betreuerin dreist lügen. „Ich freue mich wieder auf zuhause“ oder „Hier ist es ganz schön!“ stand auf den Postkarten an die Eltern in Waldkirch im Südschwarzwald. „Das macht etwas mit einem“, sagt Regina Gräbner heute.

„Ein Gefühl von Todesangst“

Sechs Jahre alt war sie, als sie vom Arzt wegen Asthmas in das Soleheilbad im Norden geschickt wurde. In Karlsruhe setzten die Eltern das Kind in den Zug. „Allein diese Fahrt bewirkte ein Gefühl von Todesangst. Ausgeliefert unter Fremden. „Die Ankunft am Heim hatte etwas von Endgültigkeit.“

Regina Gräbner mit einer Betreuerin.
Regina Gräbner mit einer Betreuerin. | Bild: Archiv Regina Gräbner

Die lange Trennung von der Familie sei ein „unglaublicher Schock“ gewesen. „Man meint: ich komme nie wieder nach Hause, das hört nie wieder auf!“ Ohnmacht stellt sich ein und die Angst, von den Eltern im Stich gelassen worden zu sein.

Die gelernte Hebamme und Mutter kann heute erklären, was sie sich früher nicht beantworten konnte: Warum fühle ich mich in Hallenbädern, Gemeinschaftsduschen oder einem Speisesaal unwohl? Warum halte ich es in Mehrbettzimmern nicht aus? Warum esse ich gerne allein unter freiem Himmel mein Vesper?

Der Teller musste leer werden – auch wenn Erbrochenes darauf lag

Sie waren zwölf Mädchen in dem Zimmer. Um auf die Not des Einzelnen einzugehen, blieb den „Tanten“, wie man sie nannte, keine Zeit. Es gab nur die Gruppe, und die hatte zu spuren. Im Speisesaal hieß das: Am Platz sitzen, bis alles aufgegessen war – „selbst wenn man in den Teller gekotzt hatte“. Druck und Strenge machten alles noch schlimmer. Nicht alles von damals ist heute noch präsent. „Da tun sich schwarze Löcher auf“, sagt Regina Gräbner. „Die Not war unendlich groß.“

Angst-Situation: Dieses Bild vom Solebad im Holzbottich hat Regina Gräbner als Kinde gemalt.
Angst-Situation: Dieses Bild vom Solebad im Holzbottich hat Regina Gräbner als Kinde gemalt. | Bild: Regina Gräbner

Aber nicht vorbei. Im nächsten Jahr wurde das Mädchen nochmal verschickt. Jetzt in Kinderkurheim „Gutermann“ in Oberstdorf im Allgäu. „Nachts leuchteten uns die Schwestern mit Taschenlampen ins Gesicht, um zu schauen, ob jeder schläft.“ Weinen war untersagt.

Heute spricht Regina Gräbner von einer „tiefen Wunde“, die sie in sich trage. Immer wieder hat sie Therapeuten aufgesucht. Der Austausch, die Mails mit anderen Gezeichneten der Verschickungsunkultur, das gegenseitige Sprechen über die Erfahrungen. „Das tut oft sehr weh, und es reißt Wunden auf“, sagt sie. „Aber es ist auch heilsam.“

Von Ennepetal nach Amrum

Michael Thierbach, 66: Wenn sich der Ruheständler, der heute in Freudenstadt wohnt, an seine sechs Wochen im DRK-Kinderheim in Wittdün auf der Nordsee-Insel Amrum erinnert, spricht er nicht von Erholung, sondern hat sein eigenes Wort dafür: „Quälung.“

Michael Thierbach (66) kommt aus Ennepetal in Nordrhein-Westfalen und zog später nach Freudenstadt.
Michael Thierbach (66) kommt aus Ennepetal in Nordrhein-Westfalen und zog später nach Freudenstadt. | Bild: Michael Thierbach

Er wurde aus Ennepetal bei Hagen in Nordrhein-Westfalen, wo er als Einzelkind aufwuchs, nach der Diagnose „Bronchitis und Schwäche“ in die Seeluft Westfrieslands geschickt. Die Eltern brachten den 7- oder 8-Jährigen – an das Alter kann sich der Wahl-Schwarzwälder nicht genau erinnern – an den Bahnsteig.

Michael Thierbach noch im Kindergartenalter.
Michael Thierbach noch im Kindergartenalter. | Bild: Michael Thierbach

Mag das Seeklima zuträglich gewesen sein – die Ernährung war es nicht. Sie wurde sofort zum Problem, genauer: Von der Heimleitung zum Problem gemacht. Die Familie Thierbach verzichtete aus religiösen Gründen auf Blutwurst. Man gab dem Jungen einen Brief mit. „Also habe ich nur noch Brote mit Blutwurstscheiben bekommen.“

Die „Tanten“ fanden die geheime Nachricht an die Eltern

„Ich wollte das meinen Eltern mitteilen, aber die versteckte Notiz im Briefumschlag wurde von den ‚Tanten‘ gefunden. Dann gab es richtig Ärger.“

Der Junge litt unter Erbrechen. Man ließ ihn nicht auf Toilette, damit er sich nicht heimlich übergeben konnte. Ob er das im Speisesaal Erbrochene essen musste, weiß der 66-Jährige nicht mehr. „Aber ich musste den Eimer holen und alles wegputzen.“

Zwecks Steigerung des Appetits führten die „Tanten“ einen Wettbewerb auf: Der Tisch, der am schnellsten mit dem Essen fertig war, bekam einen Preis, etwa eine Tafel Schokolade. „Mich haben sie zu den schnellsten Essern gesetzt und ihnen zu verstehen gegeben: Wenn er euch den Preis versaut, dann wisst ihr, was ihr machen müsst.“

Prügel von anderen Jungs

Die anderen vollzogen an dem Jungen ihre Strafe. Stand eine ärztliche Visite an, schärften ihm die Frauen ein, die Blutergüsse zu beschwindeln und zu erzählen, er sei die Treppe heruntergefallen.

Mediziner unterzogen die Jungen in einem Waschraum im Keller ihrer Wiege-Routine. „Dabei wurde erwartet, dass wir uns nackt präsentieren und auch die Unterhose auszogen. Wir haben uns geschämt und wollten das nicht“, erinnert sich der Vater von zwei Töchtern und Großvater zweier Einkelkinder. „Interessiert hat unser Einspruch niemanden.“

Nach den Heimwochen war sein Verhältnis zu den Eltern kaputt. Für immer. „Ich habe mich verlassen gefühlt – Mama und Papa konnte ich nie mehr sagen.“ Ein Ohr für seine Berichte hatten sie nie.

Die Traumata von Amrum hinterließen später offenbar ihre Spuren. Michael Thierbach erkrankte am Herz. Amrum ist wieder ein Thema geworden. Damals nach Wittdün Verschickte teilen ihre Erfahrungen online. Inzwischen sind es acht.

Aus Konstanz an den Titisee

Katharina Ganslandt, 55: „Zu dünn“, meinte die Hausärztin und ordnete eine Kinderkur in Lenzkirch-Saig an. Die Sechsjährige, noch nicht in der Schule, lebte damals in Konstanz, ihr Vater etablierte sich gerade als Wissenschaftler an der Universität.

Katarina Ganslandt (55) kommt aus Konstanz und lebt heute in Berlin.
Katarina Ganslandt (55) kommt aus Konstanz und lebt heute in Berlin. | Bild: Katarina Ganslandt

So blieb ihr zumindest eine Bahnfahrt in das „Kinderkurheim Schwoerer“ erspart.

Das „Haus Schwoerer“ in Lenzkich-Saig am Titisee auf einer alten Postkarte.
Das „Haus Schwoerer“ in Lenzkich-Saig am Titisee auf einer alten Postkarte. | Bild: Archiv Alexander Michel

Der erste Kontakt zu den Betreuerinnen ließ sich gut an, die Eltern waren ja dabei. Da gerade warme Milch ausgegeben wurde – die das Kind nicht mochte – konnten die Eltern die Bitte vorbringen, den Milchgeruch durch einen Löffel Kakao zu mildern.

Katarina Ganslandt kam mit sechs Jahren in die Kinderkur an den Titisee.
Katarina Ganslandt kam mit sechs Jahren in die Kinderkur an den Titisee. | Bild: Katarina Ganslandt

Das geschah. „Aber am nächsten Tag, als meine Eltern weg waren, wurde die ‚Extrawurst‘ abgelehnt“, erzählt Katharina Ganslandt, die heute in Berlin lebt und als Übersetzerin arbeitet. Metaphern liegen ihr. „Ich dachte damals, ich komme in einen Farbfilm – und am nächsten Tag bin ich in einem Schwarzweißfilm.“

Dünner Haferschleim mit viel Zucker

Dass sie gerne allein zuhause arbeitet und nicht viele Leute um sich herum braucht, erklärt sie auch mit der Heim-Erfahrung, oder: Ihrem Heim-Trauma. „Der Tag fing bereits mit einer Quälerei an.“ Dünner Haferschleim mit viel Zucker. Der Druck, essen zu müssen, um Gewicht aufzubauen, erzeugte Gegendruck. Das Sauerkraut kam wieder hoch. Und musste erneut reingewürgt werden. Selbst wenn sich das über eine ewige Stunde hinzog.

Die Erinnerung, die alten Bilder, belasten. „In der Mittagspause waren wir in Decken gewickelt und durften uns nicht bewegen“. Es sei eine „Aushalte-Situation“ gewesen, in der man versucht habe, „es irgendwie durchzustehen“.

Durchgestanden werden musste auch die Dusch-Aktion vor weißen Kachelwänden im Keller: „Da wurden wir mit einem Schlauch kalt abgespritzt.“ Heute sagt die 55-Jährige: „Man hatte das Gefühl, in eine Falle gelockt worden zu sein.“

Oster-Süßigkeiten wurden einkassiert

Das riesige düstere Schwarzwaldhaus ist die Falle, draußen ist Natur, Sonne, Freiheit. An die Spaziergänge im Schwarzwald hat sie gute Erinnerungen. Aber Freundschaften konnte sie dort nicht knüpfen. Vielleicht aus dem Gefühl, dass die Einzelne hier „nichts zählt“. Selbst das Osternest, dass die Eltern für die Versüßung der Feiertage nach Lenzkirch schickten, wurde dem Mädchen abgenommen. Begründung: „Manche haben gar nichts – das wäre nicht gerecht.“

Tränen? Ja, die gibt es noch heute. Aber auch ein Bewusstwerden. Warum galt sie als Mädchen in der Schule als „schwierig“, warum wehrte sie sich gegen Anpassung und Zwang? Die zufällige Begegnung mit einem Postboten, der auch als Kind verschickt wurde, half Katarina Ganslandt, ihre Heimgeschichte zu durchdringen. Da war sie um die 50.

Von Markdorf nach Bad Rappenau

Gerhard Stoll, 64: Zeltlager, Gruppenleben, Abenteuer – der Junge, der als Bub in Markdorf lebte, mochte das und hat die Ferienlager der Inneren Mission in guter Erinnerung. Sicher auch, weil man dort nicht gedemütigt und gehänselt wurde und auch der Einzelne etwas galt.

Gerhard Stoll (64) wuchs in Markdorf auf und lebt heute bei Vaihingen/Enz.
Gerhard Stoll (64) wuchs in Markdorf auf und lebt heute bei Vaihingen/Enz. | Bild: Gerhard Stoll

Das war im Kinderkurheim „Siloah“ in Bad Rappenau, in das man den Jungen im Alter von sieben 1964 geschickt hatte, nicht so. „Dort hat die Persönlichkeit nichts gegolten“, erinnert sich der Rentner, der heute bei Vaihingen/Enz lebt.

Gerhard Stoll kam mit sechs Jahren nach Bad Rappenau.
Gerhard Stoll kam mit sechs Jahren nach Bad Rappenau. | Bild: Gerhard Stoll

Ein Dauerschnupfen brachte den Jungen vom Bodensee ins Soleheilbad im Unterland. In Überlingen setzen ihn die Eltern, die in Markdorf einen Handwerksbetrieb aufbauten und die Verschickung wie viele Eltern als Entlastung empfanden, in den Zug, wo sich eine Fürsorgedame seiner annahm. „In Karlsruhe stießen dann noch viel mehr Kinder dazu“, erinnert sich der Rentner und erzählt, wie er nach langer Fahrt erschöpft und weinend am Kurheim ankam.

Sprechverbot bei der Mittagsruhe

Dort führten die Frauen der Mannheimer Schwesternschaften im Dienst des Roten Kreuzes ihr Regiment. „Der Tag war streng geordnet“, so Stoll, der sich gut an die Mittagsruhe des inzwischen abgerissenen Heims erinnert: „Da gab es eine Liegehalle, und dort durften wir weder reden noch uns bewegen.“ Ruhigstellung der Kinder war oberstes Gebot.

So entwickelten jene feine Antennen, um den Tag ohne Blessuren und Standpauken durchzustehen. „Ja nicht auffallen und nichts falsch machen“, war das Überlebensrezept im Heilbad, das im Grunde ein Stahlbad war.

Ein Sole-Wannenbad in Bad Rappenau. Für asthmatische oder auch nur an einer Triefnase leidende Kinder versprach man sich hier Besserung.
Ein Sole-Wannenbad in Bad Rappenau. Für asthmatische oder auch nur an einer Triefnase leidende Kinder versprach man sich hier Besserung. | Bild: Archiv Gerhard Stoll

Vor allem die Jüngeren hatten wenig zu Lachen. Wenn über jemanden Spott ausgegossen wurde, dann meist über sie. Im Schlafsaal lagen 15 Kinder in aneinandergereihten Metallbetten. Hier hatte sich seit Jahrzehnten nichts verändert.

Ein Schlafsaal mit 15 Betten im Kinderkurheim „Siloah“.
Ein Schlafsaal mit 15 Betten im Kinderkurheim „Siloah“. | Bild: Archiv Gerhard Stoll

Die 60er gingen an dem Heim glatt vorbei

Die 60er-Jahre mit ihrem kulturellen und sozialen Wandel zogen am „Siloah“ vorbei. Der Name der alten Wasserzisterne von Jerusalem stand nicht für belebende Erholung, sondern für freudlose Kinderverwaltung. Jüngere Betreuerinnen litten darunter, „waren aber gegen die Knute von oben machtlos“, wie Gerhard Stoll berichtet.

Mit Fotos wie diesem wurde der schöne Schein sauberer und geordneter Verhältnisse in einem Kinderheim erzeugt.
Mit Fotos wie diesem wurde der schöne Schein sauberer und geordneter Verhältnisse in einem Kinderheim erzeugt. | Bild: Archiv Gerhard Stoll

Er lernte später selbst Erzieher und arbeitete dann in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung. Stoll wollte damit auch zeigen, dass es anders geht. Heute ist der frühere Markdorfer im Verein Aufarbeitung Kinderverschickungen Baden-Württemberg engagiert. Dort kann er weiter etwas Gutes tun: „Es rufen bei uns Menschen teils mit weit über 80 Jahren an – heulend – und sind froh, dass sie ihre Geschichte vom Kinderkurheim erzählen können.“