Ende März erhält Karl J. aus Konstanz einen seltsamen Anruf. Frank Bader, angeblich Kriminalbeamter, warnt ihn vor einer rumänischen Einbrecherbande in seiner Umgebung. Zwei Verbrecher seien gefasst. Sieben treiben weiter ihr Unwesen.
Karl J. ist überrumpelt, hat Angst. Und Bader macht Druck. Er fragt nach Gold, Silber, Bargeld, Schmuck. Er lässt dem Rentner keine Zeit zu atmen – wie ein wild gewordenes, männliches Wildschwein. Deshalb wird seine Rolle im Komplott von Experten nur „der Keiler“ genannt.
In Schockstarre gibt Karl J. Auskunft über sein Vermögen. 3000 Euro Bargeld und 70 Krügerrandmünzen lagern in seinen vier Wänden in Konstanz. Gesamtwert 114.800 Euro.
Frank Bader, alias Cihan Y., Callcenter-Mitarbeiter mit Sitz in der Türkei, riecht den großen Wurf. Gekonnt redet der falsche Polizist dem Rentner ein, dass sein Vermögen in großer Gefahr ist. Er soll sein Geld in Sicherheit bringen. Am besten Scheine und Münzen vor die Tür zu legen. Polizisten holen es ab, sichern so das Ersparte – angeblich.
Der 78-Jährige zögert nicht lange. Er stopft die Wertsachen in einen weißen Stoffbeutel und deponiert ihn vor seiner Haustür. Hinter den Kulissen läuft die Verbrecher-Maschinerie auf Hochtouren.
„Keiler“ ruft an, „Logistiker“ plant, „Abholer“ sammelt Beute ein
„Keiler“ Cihan Y. ruft parallel seinen „Logistiker“, wie er in Polizeikreisen genannt wird, in der Nähe des Rentners an: Für die Region ist Martin M. aus einem Ort am Bodensee zuständig. M. weiß genau was zu tun ist: Er muss „Abholer“ beauftragen. Abholer sind das letzte Glied in der Verbrecherkette.
Auch die Abholer sind in Bezirke eingeteilt. Raffaele A. übernimmt gewöhnlich den Raum Konstanz. Er fährt zum Zielort, sackt die Beute ein und macht sich anschließend auf den Weg zum Logistiker auf der anderen Seeseite. Seine vier Wände dienen als Zwischenlager. Ende März läuft alles reibungslos, wie aus dem Verbrecher-Lehrbuch. Operation Falscher Polizist abgeschlossen – vorerst.
So oder so ähnlich sind die Männer zwischen Mitte März und Anfang April 2020 nach Auffassung des Richters am Landgericht Konstanz in vier Fällen vorgegangen. In vier weiteren Fällen, haben sich Rentner in der Region nicht hinters Licht führen lassen. Nun wurden die Abholer Raffaele A. und Giovanni P. sowie Logistiker Martin M. im großen Saal im Konstanzer Landgericht wegen bandenmäßigem Betrug und versuchtem bandenmäßigen Betrug zu Haftstrafen zwischen sechs und neun Monate verurteilt – auf Bewährung.
Warum sind die Strafen so niedrig?
Der Richter hätte bis zu zehn Jahre verhängen können. Das Trio kommt mit einem blauen Auge davon – allen voran Logistiker Martin M. Und das hat einen Grund. Normalerweise fasst die Kriminalpolizei nur Abholer, manchmal auch Logistiker. Aber Hintermänner wiegen sich in Sicherheit. Ihre Handlanger sind verschwiegen. Familie und Freunde leben gefährlich, wenn man gegenüber Polizei auspackt, Hintergründe und Namen liefert.
Kriminalpolizei Nürnberg liefert Handynummern
Doch dieses Mal ist es anders. Die drei jetzt verurteilten Männer wurden von der Polizei observiert. Die Kripo Friedrichshafen bekam Anfang des Jahres einen heißen Tipp von Kollegen aus Nürnberg. Die Bayern waren zu diesem Zeitpunkt einem anderen Hintermann in der Türkei auf der Spur. Irgendwann hatte Cihan Y. Kontakt zu ihm. Der Kreis schließt sich: Cihan Y. hat Kontakt zu Martin M. Und dieser hat Kontakt zu Raffaele A. und Giovanni P.
Observation an mehreren Tatorten
Die Kripo Friedrichshafen zapft die Handys der drei Verbrecher an, hört Gespräche ab, folgt ihnen auf Schritt und Tritt. Sicherheitsbeamte beobachten vier Taten und drei Versuche aus sicherer Entfernung. Sie sammeln genügend Beweise, bevor sie Mitte April in Stockach bei erneutem Versuch zugreifen.
Später wird Martin M. vor Gericht erklären, dass er erst in der Zelle realisierte, „welche Scheiße ich eigentlich verbrochen habe.“ Er will seine Taten wieder gut machen und aufklären. M. redet.
Martin M. wird zum Lockvogel
Er bietet der Polizei einen Deal an. Sollte er wieder für kurze Zeit auf freien Fuß gesetzt werden, will er sich mit Mittelsmann Gökhan K. in Verbindung setzen. K. ist der Polizei bis dahin völlig unbekannt. Er fungiert als Überbringer der Beute von Deutschland in die Türkei.
K. ist ein dicker Fisch im Geschäft – einer dieser Männer, die die Polizei sucht, aber so gut wie nie fassen kann. Jetzt bietet sich die einmalige Chance an Hintermänner wie Keiler Cihan Y. heranzukommen. Die Polizei und die Konstanzer Staatsanwaltschaft lassen sich auf Martin M.s Vorschlag ein.

Martin M. ruft Gökhan K. an. Er bittet ihn um die Übergabe der Beute. Dieser stimmt zu. Er weiß zu diesem Zeitpunkt noch nichts von der Festnahme der Polizei. Wenige Tage später treffen sie sich auf einem unscheinbaren Parkplatz in Immenstaad. Die Polizei wartet in sicherer Entfernung – und schlägt zu.
Deutsch-türkische Spannungen behindern Ermittlungen
Gökhan K. befindet sich seitdem in Untersuchungshaft. Experten des LKA Bayern in München haben diesen Fall übernommen. Wie es um die Ermittlungen steht, ist unklar. Der leitende Kriminalbeamte hat keine Aussagegenehmingung vor Gericht.
Aber: „Wie immer wird es in solchen Fällen schwer weiter zu ermitteln. Die politischen Fronten zwischen Deutschland und der Türkei wirken sich auch auf die Polizeiarbeit aus“, sagt der Ermittler.
Bedeutet: Obwohl ein Schwergewicht wie Gökhan K. gefasst werden konnte, sind die Erfolgschancen gering, weiteren Hintermännern in der Türkei auf die Schliche zu kommen. Nur extrem selten kann die Polizei mit den türkischen Kollegen vor Ort Erfolge erzielen.
„Abholer und „Logistiker“ sind leicht zu erstezen
Auch die Festnahme des Verbrecher-Trios ist für Drahtzieher in der Türkei in der Regel kein Problem. Abholer und Logistiker lassen sich leicht ersetzen. Es ist wie die alte Geschichte mit der Hydra. Schlägt man dem vielköpfigen Ungeheuer einen Kopf ab, wachsen zwei nach.
Und trotzdem: Die Polizei war erfolgreich. Die drei Verurteilten im Konstanzer Gerichtsprozess bezeichnete der Richter in seiner Urteilsbegründung als „nicht alltäglich“. Normalerweise sitzen ihm gescheiterte Existenzen gegenüber. Der Durchschnitts-Betrüger ist arbeitslos, drogenabhängig. Sein Vorstrafenregister gleicht einem Roman. Die Verurteilten sind anders.
Raffaele A. ist selbstständig. Giovanni P. arbeitet als stellvertretender Teamleiter, besitzt mehrere Wohnungen. Und Martin M. hatte sich ein Unternehmen aufgebaut.
Eine diabolische Mischung aus Vertrauen, Zukunftsangst, Perspektivlosigkeit.
Wie kann es sein, dass sich gestandene Männer, Väter von Kindern, die sich nie etwas zuschulden haben kommen lassen, in Betrügereien hinabziehen lassen? Vor Gericht wird deutlich: Es ist eine diabolische Mischung aus Vertrauen, Zukunftsangst, Perspektivlosigkeit.
Alle drei kennen sich vom Sport. Sie sind Freunde, treffen sich hin und wieder auf ein Bier. Raffaele A. und Giovanni P. vertrauen Martin M. Das wird ihnen zum Verhängnis. Alle drei suchen das schnelle Geld.
Allen voran benötigt Martin M. Geld. Die Corona-Krise erwischt ihn. Sein Unternehmen muss im März schließen. Er bekommt es mit der Angst zu tun. „Ich wusste ja nicht, wie es weitergeht. Ich war völlig blank. Von heute auf morgen. Und dann war da plötzlich ein alter Freund“, schildert M. vor Gericht.
Cihan Y. nutzt seine guten Kontakte in die Bodenseeregion
Er spricht von Cihan Y., dem Keiler. Y. und M. kennen sich von früher. Beide wohnten in der gleichen Stadt am Bodensee, begegneten sich im Nachtleben. Y. war erfolgreich, hat gut verdient. Vor einigen Jahren entschließt er sich, in die Türkei auszuwandern. Martin M. und Cihan Y. bleiben in Kontakt – sporadisch. Sie telefonieren hin und wieder. Auch im März, als das Coronavirus Deutschland mit voller Härte trifft.
Martin M. erzählt seinem alten Kumpel von seinen Zukunftsängsten. Er stecke in Geldnot. Müsse Kredite bezahlen, seinen Sohn versorgen. Im richtigen Moment lockt Cihan Y. mit einem Ausweg aus der Krise. Er bietet Martin M. einen einfachen Job an. Angeblich nur Schwarzgeld von A nach B bringen. Mehr nicht.
Das Angebot klingt verlockend. Martin M. schlägt ein. Er holt auch noch Raffaele A. und Giovanni P. mit ins Boot. Der Keiler hat zugeschlagen. Die Maschinerie beginnt.
Sie wollen nichts gewusst haben
Giovanni P. und Raffaele A. erklären vor Gericht, dass sie von der Masche „Falscher Polizist“ nichts wussten. Dass sie Schmuckschatullen und alte Goldmünzen vor Haustüren einsammeln, habe sie nicht stutzig gemacht.

„Mein Mandant dachte immer, dass es um Schwarzgeld geht“, beteuert auch Tomislav Duzel in seinem Schlussplädoyer. Er verteidigt Raffaele A. Der Richter glaubte Duzel nicht. „Ich habe jetzt Revision eingelegt“, sagt der Rechtsanwalt im Gespräch mit dem SÜDKURIER. Er will einen Freispruch erwirken.
Fakt ist aber heute schon: Das Geschäft der türkischen Callcenter-Mafia bleibt äußerst lukrativ und dürfte die Schadenssummen von altbekannten Telefonbetrügereien wie dem Enkeltrick bei Weitem übersteigen – das ist zumindest aus Kreisen des Landeskriminalamts zu hören. Die jährlichen Gewinne der Branche werden auf einen dreistelligen Millionenbetrag geschätzt. Die Masche der Falschen Polizisten boomt -weiterhin.