Die Drohkulisse steht: Kein russisches Gas mehr – zumindest für Polen und Bulgarien. Trifft es also bald auch Deutschland? Das würde für Russland empfindliche Verluste bedeuten, gehört die Bundesrepublik doch zu seinen wichtigsten Abnehmern. Die Bundesregierung arbeitet fieberhaft daran, die Abhängigkeit von russischem Gas zu reduzieren – von bisher 55 Prozent auf 35 Prozent. Bis 2024 soll der Anteil auf zehn Prozent sinken.

Drehte der Kreml allerdings heute den Hahn ab, kämen einige industriestarke Regionen wie Südbaden nach Berechnungen des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle schon im kommenden Frühjahr in arge Bedrängnis.

So entfällt etwa ein Drittel des Gasverbrauchs in Deutschland auf die Industrie, größtenteils wird es für Wärme- und Kälteprozesse genutzt, knapp ein Viertel (23 Prozent) wird für die chemische Nutzung gebraucht, aber auch bei der Papier- und Metallherstellung (je acht Prozent) wird Gas benötigt.

Auch deshalb forderte Eon-Aufsichtsratschef Karl-Ludwig Kley, im Notfall zunächst den Privathaushalten das Gas abzudrehen, um die wichtigen Industriezweige – und damit auch Arbeitsplätze – zu erhalten. Eine EU-Verordnung gibt jedoch vor, dass die Versorgung der Privathaushalte sichergestellt sein muss. Sollte das Gas knapp werden, dürfte die Industrie also stark betroffen sein. Noch analysiert die Bundesnetzagentur, welchen Branchen man den notfalls das Gas abstellen könnte.

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Gas könnte bis zum nächsten Frühjahr reichen

Ausgehend von einem als wahrscheinlich erachteten Szenario und zusätzliche Lieferungen aus anderen Ländern wie Norwegen und Algerien mit einberechnet, müssten die Gasvorräte Ende März 2023 für viele Industriezweige rationiert werden – sollte der Winter härter ausfallen oder milder, könnte sich der Zeitpunkt entsprechend verschieben. Die Berechnungen stammen von Oliver Holtemöller, Professor für Volkswirtschaftslehre und Makroökonomik sowie stellvertretender Leiter des Leibnitzinstituts für Wirtschaftsforschung und basieren auf der Gemeinschaftsdiagnose der deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute.

Oliver Holtemöller, Professor für Volkswirtschaftslehre und stellvertretender Präsident des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung ...
Oliver Holtemöller, Professor für Volkswirtschaftslehre und stellvertretender Präsident des Leibnitz-Instituts für Wirtschaftsforschung in Halle (IWH). | Bild: IWH, (c) Fotowerk BF

Demnach könnte eine Kürzung der Gasmengen für die Industrie allein in Baden-Württemberg zu Verlusten in Höhe von mehr als 35 Milliarden Euro führen – 7,7 Prozent der Bruttowertschöpfung. „Das ist gravierend, aber nicht so, dass das wirtschaftliche Leben zusammenbricht“, so Holtemöller. Blickt man auf die einzelnen Regionen, wäre der Kreis Tuttlingen mit 9,9 Prozent stark betroffen, der Schwarzwald-Baar-Kreis mit 7,8, der Bodenseekreis mit 8,9 Prozent, Waldshut mit 7,1 Prozent, der Kreis Konstanz mit 6,9 Prozent.

Auswirkungen besonders im Südwesten

Die Auswirkungen wären besonders im Südwesten hoch, da hier viele Industrieunternehmen ansässig sind, vor allem Automobilindustrie und -zulieferer. Entsprechend groß wären die Auswirkungen eines Gasstopps auf diese Industriezweige. Die Einbrüche in der Produktion wiederum könnten 6,9 Prozent der Beschäftigten mehr oder weniger stark betreffen – mit Maßnahmen wie Kurzarbeit, dem Abschmelzen von Arbeitszeitkonten bis hin zu früheren Renteneintritten oder gar Entlassungen.

Auch Jens-Oliver Niklasch, Volkswirt der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) zeichnet eine düstere Prognose, sollte Deutschland von sich aus ein Gasembargo verhängen. „Verzichten wir wegen des Ukrainekriegs auf Gaslieferungen aus Russland, würde dies zu einem Einbruch der Industrieproduktion führen“, warnte er.

Zwischen zwei und fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts könnte die Bundesrepublik dadurch einbüßen. Denn selbst eine anteilige Weiterversorgung von energieintensiven Industrien könnte die Fortsetzung der Produktion nicht garantieren: „Wer für seine Anlagen eine Gasversorgung von 50 Prozent der Normalversorgung benötigt, dem nützt eine Versorgung von 49 Prozent so viel wie null Prozent, nämlich nichts.“

IG Metall und IHK fürchten massive Folgen

Auch die IG Metall hält die Studie des Leibnitz-Instituts für realistisch, sie decke sich „mit Berichten aus den Betrieben“, sagt eine Sprecherin der IG Metall Baden-Württemberg. Industrien, die nicht unmittelbar für die Lebenserhaltung, Daseinsvorsorge, Energieversorgung oder den Transport lebensnotwendiger Güter erforderlich seien, wären demnach besonders betroffen – „also auch weite Teile des Maschinen- und Fahrzeugbaus in Baden-Württemberg“.

Wie viele Arbeitsplätze dadurch gefährdet werden könnten, ließe sich nicht genau beziffern, so die Sprecherin, „da man auch nicht zwingend von einem Komplettausfall ausgehen kann“. Die Frage ist, „inwieweit es gelingt, kurzfristig technische Alternativen für die Energieversorgung der Industrie zu realisieren“. Die Unternehmen arbeiteten mit Hochdruck daran.

Die Industrie- und Handelskammer Bodensee-Hochrhein geht sogar davon aus, dass die Folgen eines Gasstopps in der energieintensiven Industrie wie etwa der hiesigen Aluminiumproduktion unmittelbar zu spüren wären. „Wenn Gas über längere Zeit komplett abgestellt würde, dann hätte das einschneidende Konsequenzen. Dann wird es auch für den Standort selbst gefährlich“, mahnt Uwe Böhm, Geschäftsführer des Bereichs International.

Dr. Uwe Böhm, Geschäftsführer International der IHK Hochrhein-Bodensee.
Dr. Uwe Böhm, Geschäftsführer International der IHK Hochrhein-Bodensee. | Bild: IHK Hochrhein-Bodensee

Die Präsidentin des IHK Schwarzwald-Baar Heuberg, Birgit Hakenjos, sieht es ähnlich: „Ein Ausfall der Gasversorgung würde an der deutschen Volkswirtschaft und sicherlich auch an unserer industriestarken Region Schwarzwald-Baar-Heuberg nicht spurlos vorbeigehen.“

Wie stark die Auswirkungen sein werden, hänge aber von mehreren Faktoren ab: Neben der noch ausstehenden politisch bestimmten Priorisierung sei maßgeblich, wie stark ein Unternehmen in den jeweiligen Lieferketten eingebunden sei, wie sehr schon Zulieferer von den Kürzungen betroffen wären und auch, ob benötigte Vorprodukte für die Produktion ersetzbar waren.

Birgit Hakenjos, Präsidentin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Schwarzwald-Baar-Heuberg.
Birgit Hakenjos, Präsidentin der Industrie- und Handelskammer (IHK) Schwarzwald-Baar-Heuberg. | Bild: Fröhlich, Jens

In der Region wären unter anderem der Aluminiumhersteller Constellium (früher Alusingen), aber auch der Autozulieferer ZF in Friedrichshafen von Gasknappheit betroffen. Ein Sprecher von ZF bestätigt dem SÜDKURIER auf Anfrage: „Erdgas hat bei ZF einen substanziellen Anteil am Gesamtenergieverbrauch.“ Es werde für Heiz- und Härteprozesse eingesetzt, aber auch für betriebseigene Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen.

Den Angaben des Sprechers zufolge arbeite eine Task Force daran, wie im Fall von Lieferunterbrechungen kurzfristig auf andere Energieträger oder andere ZF-Standorte ausgewichen werden könne, um die Produktion aufrechtzuerhalten. Auch die ZF-Werke in Polen laufen demnach ebenso stabil – trotz bereits abgedrehten Gashahns. Das Land verfüge demnach über eine „aktuell hohe Gasreserve“, so dass die Belieferung normal weiterlaufen könne.