Dieser Aufruf in privaten Chatgruppen der Schweizer Tuner- und Poserszene hatte Folgen: „Standort 1: Singen Media Markt“ samt genauer Adresse. „WICHTIG: Ned vor 21:00 Uhr do sii!“, wurde am vergangenen Wochenende über sogenannte soziale Medien wie Telegram, What‘sApp und Instagram verbreitet – mit exakten Anweisungen für die Anreise: „FAHRED NED IN GRUPPENE ÜBER D‘GRENZE! Fahred wenn möglich ned über de Hauptzoll sondern über die chlinere Zöll!“
Zumindest 500 Tuner und Poser mit etwa 300 Fahrzeugen, darunter ein Großteil aus der Schweiz, kamen am Samstagabend dieser Aufforderung nach. Teilnehmer des Treffens sprachen von einem so noch nie da gewesenen Fahrzeugaufkommen in Singen mit deutlich höheren Teilnehmerzahlen als die offiziellen von der Polizei. „Falls polizei chunt nöd hektisch weg fahre blibed vor ort! es passiert nüt“ (“Falls Polizei kommt, nicht hektisch weg fahren, bleibt vor Ort! Es passiert nichts“), hieß es in dem Aufruf weiter, der verrät, dass die Schweizer Strippenzieher die deutsche Polizei nicht wirklich ernst nehmen dürften.
Laut einem Szenemitglied sei am Samstagabend am Media-Markt-Parkplatz in Singen trotz ausgepackter Campingausrüstung, Grills und Shisha-Pfeifen „alles ruhig“ gewesen, bis die Polizei gekommen sei und begonnen habe, den zweckentfremdeten Parkplatz am Rand des Singener Industriegebiets zu räumen. Ihren Ärger ließen die Fahrzeugliebhaber mit einem ohrenbetäubenden Hupkonzert raus: „Alle sind ausgerastet. Jeder hat Gas gegeben, jeder hat gehupt“, sagt ein Augenzeuge.
Bankrotterklärung?
Die Fahrzeugliebhaber wichen, wie berichtet, gegen 22 Uhr zuerst nach Stockach aus – dem vorab vereinbarten „Standort 2“, wo sie laut Polizei „innerhalb kürzester Zeit das dortige Industriegebiet komplett blockierten“. Ein Stau von zeitweise einem Kilometer Länge bildete sich, die Polizei versuchte den Verkehr zu regeln und sperrte die Autobahn-Anschlussstelle Stockach Ost.
Gegen 23 Uhr ging es in Karawanen weiter in die Innenstadt nach Konstanz, dem „Standort 3“. Anwohner sahen sich um ihre Nachruhe gebracht und fühlten sich terrorisiert. Viele Beschwerden gingen bei der Polizei ein, die von den spontan wirkenden, aber vorab geplanten Verlagerungen der Szene auf dem falschen Fuß erwischt wurde.
Kritiker sprechen gar von einer Bankrotterklärung der Polizei gegenüber den Tunern und Posern, was das Konstanzer Polizeipräsidium entschieden zurückweist. „Wir können in kürzester Zeit Kräfte mobilisieren, aber es kommt auch auf den zugrundeliegenden Sachverhalt an“, sagt Uwe Vincon, Sprecher der Polizei Konstanz. Ein Autotreffen mit überwiegend Lärmbelästigung sei anders zu beurteilen als beispielsweise ein Mordfall. Da müsse man auch die Verhältnismäßigkeit sehen, so Vincon.
„Weil dort immer etwas los ist“
Doch warum ist Deutschland und insbesondere der Landkreis Konstanz so attraktiv für viele schweizerische Tuner und Poser? „In der Schweiz müssen wir viel mehr Geld in die Hand nehmen, was Änderungen am Fahrwerk, der Auspuffanlage und anderen Teilen betrifft, um legal unterwegs zu sein“, sagt das Zürcher Szenemitglied Jan Müller im Gespräch mit dem SÜDKURIER.
Die Schweizer Polizei würde sehr viel schneller ein Auto einbehalten, wenn nicht alle Änderungen am Fahrzeug entsprechend eingetragen sind. In Deutschland sei das nicht so schnell der Fall, dass ein Fahrzeug beschlagnahmt würde, sagt Müller. Außerdem sei Singen schon vor der Corona-Pandemie ein „Anziehungspunkt“ und „Hotspot“ für Autoliebhaber gewesen.

Ähnlich sieht das der gebürtige Karlsruher Christian Martin, der seit fünf Jahren in Schaffhausen wohnt und dort einen Betrieb als Autosattler führt. Singen habe sich in der grenzüberschreitenden Szene als Autostadt und Anlaufstelle etabliert und über Social Media verbreitet, „weil dort immer etwas los ist und auf den offenen Autobahnen im Umkreis viele einmal so richtig Gas geben können“, sagt der leidenschaftliche BMW-Fahrer. Allerdings gehe es den Schweizer Tunern und Posern nicht nur darum, in ein anderes Land zu fahren und dort zu rasen. „Es sind auch die vielen verschiedenen Fahrzeuge in Deutschland, die es in der Vielfalt so in der Schweiz nicht gibt“, sagt Martin.
Soundchecks und Burnouts
Nur ein Bruchteil der Tuner- und Poserszene seien hingegen „Idioten“, die allen anderen alles kaputt machen würden. „Nicht jeder Fußballfan ist ein Hooligan – und in der Tunerszene ist es das gleiche“, sagt der Wahl-Schweizer. Von der Öffentlichkeit würden aber nur die „Spinner“ und „Poser“ wahrgenommen, wenn sie um Mitternacht durch die Stadt rasen, aber nicht die ruhigen Leute, die sich auswärts mit 20 bis 30 Leuten treffen und keinen Lärm und Müll machen würden.
„Meine Gruppe trifft sich in der Schweiz auf Privatgrundstücken. Da läuft alles friedlich ab ohne Soundchecks (unnötiges Gasgeben, um seinen veränderten Auspuff zu präsentieren, Anm.) und Burnouts (durchdrehende Reifen, Anm.). Da kommt auch die Polizei vorbei, aber ohne Blaulicht und Krieg. Sie kontrollieren, aber gehen wieder friedlich“, sagt Martin, der sich wie der Überlinger Mateuzs Ostrozny für ein geordnetes, privates Gelände für die Szene außerhalb von Singen einsetzt.
Ruhe in Konstanz, Sturm in Stuttgart?
Auch der Schweizer Marino Boss, der im Kanton Schwyz eine Old- und Youngtimer-Werkstatt mit einem Kumpel führt, kann sich vorstellen, dass so ein Gelände viele Schweizer in Anspruch nehmen würden. „Das wäre ein perfekter Spielplatz. In der Schweiz gibt es nicht genügend Fläche, Deutschland ist da sehr viel weitläufiger“, sagt der Jungunternehmer.
Am Wochenende dürfte es laut Szenekennern zumindest im Landkreis Konstanz eher ruhig bleiben, da am Freitagabend beim Stuttgarter Fernsehturm ein großes Tunertreffen geplant ist, das in sozialen Netzwerken bereits mit folgender Botschaft viral geht: „Kommt alle zahlreich...“