„Hier ist also der Zollernblick. Ihr seht, dass ihr nichts seht“, sagt Gerlinde Kretschmann an der laubbedeckten Aussichtsplattform am Waldrand und deutet in den Nebel. Da, wo ihr Finger vage hinzeigt, sind am Hang jenseits des tiefen eingeschnittenen Tals schemenhaft die Umrisse von Häusern erkennbar. Sonst nichts.
Dichter Nebel liegt an diesem feuchtkalten Novembersonntag auf dem Städtchen Haigerloch im Zollernalbkreis und der ganzen Region. Auch Schloss, Schlosskirche und der gegenüberliegende Römerturm sind schon aus wenigen Metern Entfernung kaum noch zu erahnen. Die gute Stimmung der Wandergruppe rund um Gerlinde Kretschmann trübt der Nebel aber kein bisschen.
Die 77-Jährige, Ehefrau des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann, ist mit der Ortsgruppe Laiz des Schwäbischen Albvereins hier auf Wander- und Kultur-Tour. Man kennt sich, ist oft und gerne gemeinsam unterwegs und freut sich schon zu Beginn des Ausflugs auf die gemeinsame abendliche Einkehr. Die „Landesmutter“ ist hier für alle einfach schon seit langem die Gerlinde.
Heute ist sie die Wanderführerin, hat Route und kulturelle Stopps zusammengestellt und ist die Strecke vor ein paar Tagen mit Mechthild Schnitzer, eine ihrer fünf Schwestern, schon einmal abgegangen. „Es liegt überall viel Laub, es sind zum Teil enge Pfade am Waldrand und wir müssen steil hinunter und steil hinauf. Da mussten wir erst schauen, ob das auch geht“, sagt Gerlinde Kretschmann.

Es ging. An diesem Sonntagmorgen ist die Truppe, wetterfest eingemummelt, mit Rucksack, Vesper und Wanderstöcken, im Sigmaringer Ortsteil Laiz mit Autos zu Treff- und Startpunkt Schloss Haigerloch gestartet. Neben 25 Mitgliedern der Ortsgruppe haben sich noch sieben weitere Teilnehmer der Tour angeschlossen.
„Es ist schon so, dass der Name Kretschmann zieht“, sagt Karl Sprissler, Vorsitzender des Ortsvereins Laiz. „Die Touren sind schon besser besucht als manche andere, das muss man sagen.“ Auch Gerlindes Schwester Mechthild ist wieder dabei. Sie macht an diesem Tag den Lumpensammler und darauf achtet, dass niemand zurückbleibt und im Nebel verlorengeht.
Bislang hat Gerlinde Kretschmann, die wie ihr Ehemann Winfried seit vielen Jahren begeistert wandert und schon seit über 30 Jahren Mitglied im Schwäbischen Albverein ist, jährlich zwei- oder drei Ausflüge als Wanderführerin übernommen und organisiert. Künftig wird es wohl nur noch eine sein.
„Die zweitägigen Stuttgart-Touren, die sie früher immer angeboten hat, waren richtige Höhepunkte und immer gleich ausgebucht“, sagt Karl Sprissler. Die Tour gibt es nicht mehr, „der Aufwand war riesig“, sagt Gerlinde Kretschmann. Und ohnehin musste sie in den vergangenen Jahren durch ihre Brustkrebserkrankung etwas kürzertreten. Wie es ihr heute geht? „Gut“, sagt die 77-Jährige. Und so sieht sie auch aus.
Kretschmann reizt an Haigerloch die landschaftlich spektakuläre Lage zwischen steilen Muschelkalkfelsen und Eyachtal. Dazu kommt die Hohenzollern-Geschichte der Stadt, die in barocker Pracht ausgestatteten Schlosskirche und Anna-Kapelle und die weltweit einzige Nachbildung von Leonardo da Vincis Abendmahl-Gemälde in Originalgröße in der Evangelischen Kirche.
Hierher wollte sie schon immer einmal eine Tour machen, sagt Gerlinde Kretschmann. „Seit ich mit meinem Mann hier einmal wandern war. Ich schaue auf unseren Wanderungen immer, ob das auch Albvereins-tauglich ist. Und dann habe ich gesagt, das müssen wir im Herbst machen, wenn das Laub weg ist und man freien Blick hat. Die Lage von Haigerloch ist wirklich einmalig.“
Wandern und lernen
Das mit dem freien Blick ist aber so eine Sache an diesem Tag. „Da kann man nichts machen“, sagt Kretschmann. Immerhin hat das trübe Wetter den Vorteil, dass es auf den schmalen Waldpfaden so gut wie keinen Gegenverkehr für die Gruppe gibt.
Die Route führt einmal am Waldrand und steilen Abhängen rund um die Höhen von Haigerloch, dazwischen hinab ins Tal an der Eyach entlang und dann auf der anderen Seite die 140 mühsam zu erklimmenden Stufen der breiten Steintreppe wieder hinauf zur Schlosskirche. Mittagsrast ist nach einem kurzen Besuch auf dem jüdischen Friedhof vor der ehemaligen Synagoge, in der heute ein Museum untergebracht ist.
Gerlinde Kretschmann hat an allen kulturellen und historischen Haltepunkten ein paar Worte zu ihrer Geschichte parat. Sie ist, ganz gelernte Lehrerin, gut vorbereitet.

Egal, ob es um die Geschichte der Anna-Kapelle geht – „die schönste Barockkapelle in Hohenzollern, vielleicht in Deutschland“ –, um den Römerturm, der mit den Römern nichts zu tun hat, oder um den Namensgeber der Desiderius-Lenz-Straße, von der die Gruppe in Haigerloch abbiegen muss. Wie beim Schwäbischen Albverein gerne als Tradition gepflegt, wird auch gesungen und die Gruppe stimmt in den Kirchen ein Choral an.
„Früher war auch der Winfried immer mal dabei“, sagt der Laizer Ortsvereins-Vorsitzende Karl Sprissler. „Da blieb keine Pflanze unbenannt. Als Biologe hatte er da großes Interesse.“ Aber als Winfried Kretschmann als Politiker bekannter geworden ist und dann Landesregierungschef wurde, hätten sich immer mehr Leute für die Touren angemeldet, die mit ihm politisch diskutieren wollten. „Da musste ich schon auch mal dazwischengehen, das kann‘s ja nicht sein“, sagt Sprissler. Und dann blieb Winfried Kretschmann weg, es fehlte auch die Zeit.
Gerlinde Kretschmann, die selbst Grünen-Mitglied ist und vor Kurzem mit harscher Kritik am Auftritt der grünen Bundespartei Schlagzeilen machte, bleibt bei der Erkundung von Haigerloch und seiner Vergangenheit an diesem Sonntag jedenfalls von politischen Diskussionen unbehelligt. Sie freut sich darauf, ab Mitte 2026 – wenn Winfried Kretschmann sich aus der Politik zurückzieht – wieder mehr mit ihrem Ehemann auf Wanderschaft gehen zu können. „Das kam in den letzten Jahren viel zu kurz“, sagt sie.