Seit 50 Jahren dürfen Schweizerinnen wählen, erst am 7. Februar 1971 billigten die Schweizer Männer in einer Abstimmung diese Gleichstellung. Trotzdem stehen Schweizerinnen im Vergleich zu deutschen Frauen politisch deutlich besser da – obwohl sie hierzulande schon seit mehr als 100 Jahren ihre Stimme abgeben dürfen. 42 Prozent der Abgeordneten im Nationalrat sind weiblich. Zum Vergleich: Im deutschen Bundestag sind es gerade einmal knapp 31 Prozent. Wie aber erklärt sich das Schweizer Phänomen?

Gesine Fuchs hat verschiedene Erklärungen dafür. Sie ist Professorin am Institut für Sozialmanagement, Sozialpolitik und Prävention in Luzern. Die deutsche Dozentin hat sich intensiv mit der Rolle der Frau in der Schweizer Politik auseinandergesetzt. Gerade der jüngste Anstieg des Anteils von Frauen im Nationalrat ist erstaunlich: Waren es 2015 noch 32 Prozent, so stieg die Zahl der weiblichen Abgeordneten bei der folgenden Wahl um zehn Prozentpunkte an. Wie ist das möglich?

Gesine Fuchs ist Dozentin an der Uni Luzern und befasst sich unter anderem mit der Repräsentation von Frauen in der Politik.
Gesine Fuchs ist Dozentin an der Uni Luzern und befasst sich unter anderem mit der Repräsentation von Frauen in der Politik. | Bild: Hochschule Luzern

Die Professorin verweist auf das andere Wahlsystem der Schweizer, hier wird auch auf Bundesebende kumuliert und panaschiert. Wähler können also mehrere Stimmen einem Kandidaten geben und mehreren Listen ihre Stimmen geben.

Davon können Frauen profitieren, glaubt Fuchs. So gingen 2019 bundesweit Männer und Frauen auf die Straße, um gegen die Geschlechter-Ungleichheit zu demonstrieren. Zugleich machten sich Frauen der Organisation „alliance f“ mit der Initiative „Helvetia ruft“ für eine ausgewogenere Geschlechterverteilung in Parlamenten und Regierungen der Schweiz stark.

Junger Trend

Das blieb nicht ohne Effekt. Zuvor hatten Politikerinnen in der Schweiz immer schlechtere Wahlchancen als ihre männlichen Kollegen, bei der jüngsten Wahl aber wurden sie nach Fuchs' Analyse erstmals im Verhältnis zu den Kandidaturen gewählt. Sogar die rechtspopulistische SVP folgte dem Trend, „auch deren Wählerschaft will jetzt mehr Frauen“, so Fuchs.

Trotzdem seien Frauen nicht gleich stark repräsentiert, vielmehr spielt die Partei nach wie vor eine Rolle: Linke und Grüne haben einen deutlich höheren Frauenanteil als Parteien der traditionellen Mitte oder des rechten Spektrums, gibt die Politologin Sarah Bütikofer von der Universität Zürich zu bedenken.

Sarah Bütikofer ist Politologin an der Uni Zürich. Sie hat unter anderem den Schwerpunkt der Parlamentsforschung.
Sarah Bütikofer ist Politologin an der Uni Zürich. Sie hat unter anderem den Schwerpunkt der Parlamentsforschung. | Bild: Flurin Bertschinger

Wie jung dieser Trend ist, zeigt ein Blick zurück in die 90er-Jahre. Seit der Einführung des Frauenwahlrechts 1971 bis zu Beginn der 90er nahm der Frauenanteil stetig zu. Doch ab Mitte der 90er wuchs auch der Einfluss der SVP, die fast ausschließlich Männer aufstellte. „Diese Verschiebung der Parteienstärken rechts der Mitte im bürgerlichen Lager war für die Frauenrepräsentation in der Schweiz nicht förderlich“, sagt Bütikofer.

Die „Frauenwahl“

Ihrer Einschätzung nach gelang der Umschwung erst mit der jüngsten Wahl, die als „Frauen- und Klimawahl“ galt. Sie bekam diesen Titel, weil bei dieser Wahl besonders viele Frauen gewählt wurden und Parteien mit Klimaprogrammen stärker abschnitten als sonst.

Bütikofer führt diesen Erfolg wie Fuchs auf die Möglichkeit des Kumulierens und Panaschierens zurück. „Das Wahlsystem der Schweiz lässt den Wählenden die Möglichkeit, die Parteilisten stark zu verändern und auch Kandidierende aus anderen Parteien zu wählen.“ Hinzu kommt, dass 2019 der Anteil von Kandidatinnen mit 40 Prozent so hoch war wie noch nie zuvor in der Geschichte der Schweiz.

Einflüsse auch von außen

Die Politologin führt diese Tatsache auch auf internationale Einflüsse zurück. Das Bewusstsein für die Rechte der Frauen und ihre Vertretung in der Politik gewannen durch Bewegungen wie MeToo, die den sexuellen Missbrauch von Frauen bei der Arbeit thematisierten, den Women‘s march und eben auch den zweiten nationalen Frauenstreik in der Geschichte der Schweiz im Sommer 2019.

Wenig Politikerinnen bei Kantonen und Kommunen

Setzt sich dieser Trend aber auch in den Kantonen und Kommunen der Eidgenossen fort? Erstaunlicherweise nicht. Dort ist der Frauenanteil deutlich geringer. Schon im Ständerat, dem Äquivalent des deutschen Bundesrats, also die Vertretung der Kantone, liegt der Frauenanteil nur knapp über 26 Prozent.

In den kantonalen Parlamenten sind immerhin 30 Prozent der Abgeordneten Frauen, in den Städteräten sind es immerhin 32 Prozent. Die Luzerner Professorin Fuchs will genau diesen Umstand untersuchen. Denn logisch wäre, dass sich Frauen in diesen Gremien „hocharbeiteten“ und dann in die nationale Politik aufstiegen.

Gründe für weniger Frauen in lokaleren Parlamenten

Sie vermutet, „es gibt ein Mobilisierungsproblem“. Frauen dazu zu bringen, sich in der Politik zu engagieren, etwa im Gemeinderat, sei schwierig. „Wenn sie nebenbei Beruf und Familie managen müssen, wollen sie keine zusätzliche Belastung“, mutmaßt Fuchs.

Hier zeige sich, dass Männer nach wie vor weniger Verantwortung für Kinder übernehmen als Frauen. Männer haben demnach „mehr Luft, sich zu engagieren“, glaubt Fuchs. Bütikofer setzt auf die Kampagne „Helvetia ruft“ in den Kantonen, um mehr Frauen für den Weg in die Politik zu begeistern.