Fast ein Jahr ist seit der Messerattacke am Friedrich-Ebert-Platz in der Singener Südstadt vergangen, bei der drei Männer einer syrischen Großfamilie zum Teil lebensgefährliche Verletzungen erlitten. Das Konstanzer Landgericht verurteilte die acht Angreifer einer weiteren Großfamilie aus Syrien, wie berichtet, in Stuttgart-Stammheim zu mehrjährigen Haftstrafen – zwei davon auf Bewährung.

Eine Anwohnerin aus Singen hatte die Attacke auf einen Kleinbus am 14. Dezember 2020 von ihrem Balkon aus gefilmt.
Eine Anwohnerin aus Singen hatte die Attacke auf einen Kleinbus am 14. Dezember 2020 von ihrem Balkon aus gefilmt. | Bild: privat

Doch die Nachwirkungen beschäftigen die Konstanzer Staatsanwälte und Richter bis heute, wie SÜDKURIER-Recherchen zeigen. Denn Kripobeamte der eigens eingerichteten Sonderkommission „Soko Familie“ durchkämmten bei ihren Ermittlungen zur Singener Messerattacke sichergestellte Smartphones und stießen dabei auf brisante Videos, mit denen die Angreifer frühere Verbrechen festgehalten hatten. Diese Erkenntnisse lösten mindestens drei Hausdurchsuchungen durch Sondereinsatzkommandos (SEK) im Juli in Singen sowie eine Festnahme aus, wie der SÜDKURIER bereits damals berichtete.

Freiburger Foltervideo

Der erste Vorfall, den man laut einem Konstanzer Staatsanwalt als „Folterattacke“ bezeichnen könne, ereignete sich laut dem Landgericht Konstanz bereits im Jahr 2016 in einer Flüchtlingsunterkunft in Freiburg. Vier Mitglieder der syrischen Großfamilie A., darunter zwei wegen der Singener Messerattacke in Stammheim verurteilte Männer, sollen zusammen mit weiteren Beschuldigten einen Verwandten überfallen haben. Unter erheblicher Gewaltanwendung, unter anderem durch Schläge mit Schläuchen, sollen die vier Männer im Alter von 18 bis 26 Jahren ihren Familienangehörigen gezwungen haben, seine Handys und weitere Datenträger auszuhändigen.

Blick auf das Hochsicherheitsgericht in Stuttgart-Stammheim beim Prozess um die Singener Messerattacke.
Blick auf das Hochsicherheitsgericht in Stuttgart-Stammheim beim Prozess um die Singener Messerattacke. | Bild: Freißmann, Stephan

Auslöser soll ein familieninterner Streit gewesen sein um vom Opfer angefertigte Fotos. Das Familienmitglied wurde dabei erheblich verletzt, hatte aber nach dem Angriff keine Anzeige erstattet. Nur weil die Angreifer ihre Tat selbst gefilmt hatten, konnten sie am Ende zur Verantwortung gezogen werden. „Es scheint den Angeklagten nicht darum gegangen sein, sich einen Vermögensvorteil zu verschaffen, sondern Zugriff auf Fotos zu erlangen“, sagt Mirja Poenig, Sprecherin des Landgerichts Konstanz, dem SÜDKURIER.

Mehrjährige Haftstrafen

Richter Joachim Dospil, der auch schon in Stammheim den Vorsitz führte, sah ebenfalls keine Bereicherungsabsicht der vier Angeklagten und verurteilte sie am Mittwoch wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung zu Haftstrafen zwischen 24 und 32 Monaten. Außerdem müssen sie die Kosten des Verfahrens und zahlreiche weitere Ausgaben tragen – mehr dazu lesen Sie hier.

Yahia A. wird in Handschellen in den Gerichtssaal in Stuttgart-Stammheim geführt.
Yahia A. wird in Handschellen in den Gerichtssaal in Stuttgart-Stammheim geführt. | Bild: DPA/Bernd Weißbrod

Zwei der vier Verurteilten hatten bereits in Stammheim mehrjährige Haftstrafen wegen der Singener Messerattacke erhalten: Yahia A. hatte im Oktober zwei Jahre auf Bewährung erhalten, der deutsch-syrische Doppelstaatsbürger Ahmad A. vier Jahre Gefängnis. Wegen Beihilfe zur Freiburger Folterattacke wurde Yahia A. nun zu zwei Jahren Jugendstrafe auf Bewährung verurteilt. Bei Ahmad A. sind es zwei Jahre und acht Monate Jugendstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Nötigung – Jugendstrafen deshalb, weil die beiden Männer zum Tatzeitpunkt erst 18 und 19 Jahre alt waren.

Ahmad A. (im Vordergrund) sowie weitere Angeklagte der syrischen Großfamilie beim Prozess um die Singener Messerattacke in ...
Ahmad A. (im Vordergrund) sowie weitere Angeklagte der syrischen Großfamilie beim Prozess um die Singener Messerattacke in Stuttgart-Stammheim. | Bild: DPA/Bernd Weißbrod

Geschlagen, entkleidet und angepinkelt

Drei weitere Prozesse in Zusammenhang mit der Singener Messerattacke werden voraussichtlich in den nächsten Wochen und Monaten stattfinden, wie SÜDKURIER-Recherchen ergeben. Eine zweite Folterattacke durch Mitglieder der syrischen Großfamilie A. ereignete sich bereits am 13. April 2020 am Rathausplatz von Singen.

In der Nähe des Rathauses in Singen soll sich im April 2020 eine Folterattacke zugetragen haben.
In der Nähe des Rathauses in Singen soll sich im April 2020 eine Folterattacke zugetragen haben. | Bild: Tesche, Sabine

Der damals 32-jährige Neffe des Hauptopfers der späteren Singener Messerattacke soll von etwa fünf Angreifern mit einem Gürtel geschlagen, erniedrigt, entkleidet und angepinkelt worden sein. Polizeibeamte griffen den leicht verletzten, nackten Mann gegen 22.15 Uhr auf, wie die Polizei damals berichtete. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Die Polizei konnte kurz darauf drei Tatverdächtige stellen, mittlerweile gibt es vier Beschuldigte. Zumindest einer von ihnen war sowohl bei der Singener Messerattacke als auch bei der Freiburger Folterattacke dabei, wie Oberstaatsanwalt Roth dem SÜDKURIER bestätigte. Seine Behörde hat bereits vor dem Landgericht Konstanz Anklage wegen Körperverletzung erhoben, ein Prozesstermin ist noch nicht fixiert.

Der leitende Oberstaatsanwalt Johannes-Georg Roth
Der leitende Oberstaatsanwalt Johannes-Georg Roth | Bild: DPA/Eibner-Pressefoto

Auch Hauptopfer ist angeklagt

Ähnlich verhält es sich bei einer bereits im August

erfolgten Anklage gegen das Hauptopfer der Singener Messerattacke, Mizr A. Am 5. Dezember 2020, also eine Woche vor dem öffentlichkeitswirksamen Angriff auf ihn und zwei Verwandte in der Südstadt, soll der 42-Jährige das Oberhaupt der verfeindeten Familie aus Syrien, den Schweizer Staatsbürger Said A., geschlagen und verletzt haben. Mizr A. weist dies zurück. Er spricht davon, Said A. beim Weglaufen lediglich weggeschoben zu haben, weil dieser ihn festhalten habe wollen, bis weitere Familienmitglieder einträfen.

Einen Termin für die geplante Verhandlung am Singener Amtsgericht gibt es laut dessen Direktor Johannes Daun noch nicht. Die zuständige Strafrichterin beabsichtige weiter abzuwarten und wolle frühestens im Dezember darüber entscheiden, ob der Beschuldigte wie in der Anklage der vorgeworfenen Tat hinreichend verdächtig ist und die Anklage überhaupt zugelassen wird, sagt Daun.

Johannes Daun, Direktor des Amtsgerichts Singen
Johannes Daun, Direktor des Amtsgerichts Singen | Bild: Tesche, Sabine

Prozessbeginn gegen Familienoberhaupt

Said A. wiederum gilt als mutmaßlicher Drahtzieher der Singener Messerattacke. Die Staatsanwaltschaft wirft dem 48-Jährigen vor, mehrere Familienmitglieder angestiftet zu haben, am Friedrich-Ebert-Platz Mizr A. zu attackieren und ihn dabei lebensgefährlich zu verletzen. Der Prozess beginnt am 16. Dezember am Landgericht Konstanz. Das Urteil des erneut zuständigen Richters Joachim Dospil wird noch vor Weihnachten erwartet. Für alle Beschuldigten gilt die Unschuldsvermutung.