Der Jagderfolg vom Vortag hängt kopfüber im Kühlraum: ein Rehbock mit Fell, Geweih und Hufen, den Rücken dem Betrachter zugewandt. Merkwürdig lebendig sieht das Tier so aus. Erst wenn man es umdreht, sieht man den langen Schnitt durch die Bauchdecke.
Die Innereien müssen spätestens eineinhalb Stunden nach dem Abschuss entnommen worden sein. Ins Maul selbst hat Jäger Oliver Güth dem Tier ein Tannenästchen gesteckt. Das wirkt für Laien ein wenig makaber, so als rage einem toten Löwen noch ein Zebra-Bein aus dem Maul.
Andererseits: Jäger gibt es, seit es auch Sammler gibt. Und je älter ein Metier, desto langlebiger dessen Rituale. So ist es auch beim Zweig, der „den letzten Bissen“ des Tieres symbolisiert. Es soll eine Geste des Respekts sein, der „Versöhnung mit dem erlegten Tier und der Natur“, sagt Güth, der in Malsch bei Karlsruhe auf die Jagd geht. Er ist einer von derzeit etwa 450.000 Menschen mit Jagdschein – Tendenz steigend. „Ich lege da großen Wert darauf.“

Den Gedanken, dass der Mensch dem Tier, das für ihn sterben musste, Respekt schuldet, kennen viele Kulturen noch heute. Die Industriestaaten hingegen haben das Sterben ausgelagert.
In den Großschlachtereien, in denen Tausende Schweine pro Tag ihr Leben lassen, wurde auch der Tod industrialisiert. Bei der Jagd ist das anders: Eineinhalb Stunden braucht Güth, um ein Tier zu „zerwirken“, wie das in der Jägersprache heißt. Der Rücken und die Teile aus der Keule sind bereits vorbestellt. „Bei Innereien stellen sich viele Leute ein bisschen an.“
Am liebsten ist es Güth, wenn alle Teile vom Tier gegessen werden. Das, findet er, ist genauso eine Respektbezeugung wie der Tannenzweig im Rehmaul. Zu Beginn seiner Jägerkarriere, vor mehr als 20 Jahren, hat Güth einmal ein paar von der Tierseuche Staupe befallene Füchse zur Tierkörperbeseitigungsanlage gebracht.
Dort wurden sie in einen riesigen Stahltrichter geworfen, in dem bereits Hunderte andere Tiere lagen, auch Katzen und ein Pferd. All die Kadaver wurden geschreddert, erhitzt – und zu Schweinefutter verarbeitet. Seit diesem Tag isst Güth noch lieber Reh aus eigener Jagd.
„Aber jetzt fahren wir mal los. Wir haben heute Abend ja noch genug Zeit zu reden“. Als er den irritierten Blick des Gegenübers bemerkt, muss er lachen: „Komplett still müssen wir nicht sein. Es ist kein Problem, wenn wir uns flüsternd unterhalten.“
Die kommenden fünf Stunden werden wie im Flug vergehen. Und das, obwohl Güth kein einziges Reh schießen wird. Ein Jäger, sagt Güth, kommt meist auch dann glücklich aus dem Wald zurück, wenn er kein Tier erlegt hat. An diesem Sommerabend versteht man sehr gut, warum.
Nur wenige Minuten, nachdem wir den Parkplatz des Vereinsheims verlassen haben, sind wir mitten im Grünen: im Wald, den jetzt allmählich die letzten Spaziergänger verlassen. Nur noch wenige Male wird Güths Hund auf dem von seinem Herrchen selbst gebauten Hochsitz („Ansitz“) Witterung aufnehmen, weil er auf dem nahen Waldweg einen Mountainbiker entdeckt hat.
Der Stammbaum des dreijährigen Rüden reicht bis ins Jahr 1920 zurück. Auf die Herkunft des Deutschen Jagd-Terriers verweist auch sein Name: Atlas von Hahnbach. Das klingt hochtrabend, ist bei Jagdhunden aber üblich, um die Abstammung kenntlich zu machen.
Ein Gurren, so laut wie der Wecker
Schon bald fühlt man sich hier oben, etwa fünf Meter über dem Boden, ein wenig wie in einer Theaterloge: oben stille Konzentration, unten das Schauspiel. Es dauert nicht lange, bis der Lärm und die Hektik, die man tagsüber gar nicht bewusst wahrgenommen hatte, abfallen und einer fast meditativen Stimmung weichen.
Allmählich nimmt man Geräusche wahr, von denen man noch wenige Minuten zuvor behauptet hätte, sie existierten gar nicht. Blätterrascheln, das selbst an einem völlig windstillen Abend wie diesem zu hören ist. Oder das Gurren einer Ringeltaube, das plötzlich so laut wirkt wie der morgendliche Wecker.
Und dann ist da dieser Busch in 400 Metern Entfernung, bei dem sich plötzlich ein Zweig heftiger bewegt als die anderen: „Da ist etwas“, sagt Güth und greift zum Fernrohr. „Ein Tier, eher klein“, vermutet er. Welches wird eines der vielen Geheimnisse des Waldes bleiben.
Wenn Wild in der Nähe ist, merkt Güth das beispielsweise an knackenden Ästen. Die klängen beim Reh wie ein leises Tak-Tak. Bei einer Wildschweinhorde geht es weniger subtil zu: „Wenn jetzt dort eine Rotte vorbeiläuft“, sagt er und deutet in eine sehr weite Ferne, „glauben Sie mir, dann hören Sie das hier“.

Güth, der im Hauptberuf als Vertriebler in einem mittelständischen Softwareunternehmen arbeitet, deutet auf eine Buche. Knapp links davon ist ein Baumstumpf, auf den er vor ein paar Tagen grobes Salz gestreut hat.
Das soll eigentlich die Rehe anlocken, auf die er es heute Abend abgesehen hat. Genauer gesagt auf die Rehböcke, die jetzt im Frühsommer ihre biologische Schuldigkeit getan haben. Die weiblichen Rehe, die Ricken, bringen den Nachwuchs zwischen Anfang Mai und Ende Juni zur Welt.
Am 1. September ist ihre Schonzeit vorbei, doch auch dann dürfen sie nicht geschossen werden, wenn sie ein Kitz dabeihaben. Dafür dürften dann ab besagtem 1. September die Böcke, die heute gut beraten sind, sich rar zu machen, vor Güths Hochsitz Lambada tanzen – er dürfte dennoch nicht schießen.
Mit Hund Atlas bekäme der Bock auch keinen Ärger. Der sei nun mal ein Jagdhund, und als solcher mucksmäuschenstill, so lange es darauf ankomme. „Das ändert sich dann aber schlagartig, sobald der Schuss gefallen ist“, lacht Güth.
Auch ohne Schuss ist der Rüde mit dem samtenen Fell an diesem Abend allerdings stets unter Hochspannung. Immer wieder riecht er im zusehends dunkler werdenden Wald etwas, reckt kaum merklich seinen Kopf und nimmt Witterung auf. Wie jetzt, als er seine Vorderläufe auf die Oberschenkel des Nachbarn setzt und einen Punkt in etwa 70 Meter Entfernung anvisiert.
Mit bloßem Auge ist dort rein gar nichts zu erkennen, und wäre da nicht das Nachtsichtgerät, man müsste glatt an den Instinkten des hochwohlgeborenen Terriers zweifeln. Doch tatsächlich hebt sich im Fernglas strahlend weiß eine Maus ab, die lange unter einem Baum sitzt, ehe sie davonhuscht.
Ansonsten spüren Güth und sein Hund immer wieder die gleichen Tiere auf: Amseln. Deren Anblick hatte in einem bis zu diesem Abend jahrzehntelang nicht allzu viele Emotionen ausgelöst. Doch heute, mit geweiteten Sinnen, sorgt auch ein Allerwelts-Vogel, den man nach langer Suche in einem Ast erblickt, für kindliche Freude wie einst beim Ostereier-Suchen.
Ganz zu schweigen vom Marder, der jetzt, wo es fast völlig dunkel ist, strahlend weiß und klar konturiert im Teleobjektiv erscheint – und schnell wieder weg ist. Nur ein Reh, das taucht heute Abend nicht auf. Aber hier gilt nun mal das Gesetz des Waldes.
Aus einem Hähnchenmastbetrieb ist noch kein Gockel entkommen, ein Tier im Wald hat auch in der Nähe eines besetzten Hochsitzes eine gute Überlebenschance. Heute liegt sie bei 100 Prozent. Überhaupt geht Güth an neun von zehn Tagen nach Hause, ohne ein Tier erlegt zu haben. Er findet das nur fair.