1 Die Maßnahmen sind medizinisch kaum begründbar
Ja, vor einigen Wochen galt die Schweiz als Hochrisikoland, in den Kantonen an der Grenze zu Italien und Frankreich starben hunderte Menschen an Covid-19. Doch längst hat sich das Geschehen dort beruhigt – und in den Deutschschweizer Kantonen war die Lage ohnehin niemals schlimmer als in den deutschen Grenzregionen. Die harte Linie an der Grenze trennt nun also zwei Gruppen mit fast identischem und immer geringer werdendem Risiko – wozu? Es herrscht hier ohnehin totale Ungerechtigkeit in Deutschland: Die Grenze zu den deutlich stärker getroffenen Niederlanden und Belgien ist weiterhin geöffnet.

2 Menschlichkeit statt Gängelung
Lange hat es gedauert, jetzt können sich grenzüberschreitende Paare, Kinder, Großeltern, Enkel endlich wieder besuchen – zumindest theoretisch. In der Praxis ist damit immer ein Verwaltungsakt verbunden. Wer nicht verheiratet ist, muss sich bis in die Intimsphäre entblättern, um sich besuchen zu dürfen, dem Staat Urlaubsbilder zeigen. Dass es viele Menschen bereitwillig machen, zeigt, wie groß die Verzweiflung, wie stark die Liebe ist. Für andere, die etwa ihre erwachsenen Kinder besuchen wollen, gibt es weiter keine Möglichkeiten. Auch das ist kaum noch zu begründen. Zudem befreit eine Rückkehr zur Normalität auch die Bundespolizisten und Zöllner von der Notlage, unklare, ständig wechselnde Weisungen auslegen zu müssen.
3 Entlastung für Pendler
Auch wenn es sich mittlerweile eingespielt hat, die Kontrollen fressen weiterhin Zeit, an der deutsch-französischen Grenze ist die Situation noch angespannter. Der Verkehr muss wieder ungehindert rollen dürfen. Dass zu jeder Zeit täglich tausende Pendler über die Grenze rollten, machte den medizinischen Nutzen der Maßnahme ohnehin schon von Beginn an fragwürdig.
4 Es wird dennoch keine Masseninfektionen geben
Ein verbreiteter Einwand gegen die Grenzöffnung: Die Sorge, dass Schweizer die grenznahen Innenstädte wieder fluten werden und so durch die Verdichtung die Ansteckungsgefahr steigt. Wobei dieser Andrang für viele Einzelhändler eher eine existenzielle Hoffnung als eine Sorge ist. Dass er so stark wie in Normalzeiten ausfällt, ist ohnehin nicht zu erwarten. Und: Wir haben ja bereits Maßnahmen, um hier Infektionsherde zu vermeiden. Abstandsregeln, Maskenpflicht, Höchstbesucherzahlen für Läden. Ob diese von Schweizern oder von Deutschen eingehalten werden, ist egal, das Infektionsrisiko bleibt gleich.
5 Die geschlossene Grenze schürt Vorurteile

Die Bilder von der erst einfach, dann doppelt eingezäunten Konstanzer-Kreuzlinger-Grenze gingen um die Welt. Sie machten zur Realität, was für die nach der Wiedervereinigung Geborenen nicht mehr denkbar war: Ein Europa der harten Grenzen, ein Europa der rigorosen Völkertrennung. Nun sind alte Ideen wiederbelebt. Es gibt wieder „die“ und „uns“, es gibt Abgrenzung und die Vorstellung, Probleme mit Schlagbäumen statt mit Solidarität zu lösen. Franzosen wurden von Deutschen mit Eiern beworfen, als Seuchenbringer stigmatisiert. Kein Wunder: Wer Grenzen schließt, macht deutlich, dass jenseits der Grenzen etwas ist, das es abzuwehren gilt, das draußen bleiben soll. Dieses entsetzliche Signal ist so schnell wie möglich zu korrigieren.