Werner redet ohne Punkt und Komma. In wenigen Sätzen entwirft er seine Lebensgeschichte – ein Leben mit Höhen und Tiefen, dessen erste Hälfte eine Sucht beherrschte, die er nach harten Kämpfen schließlich in den Griff bekam. Werner hat vor 36 Jahren seinen Alkoholismus zurückgedrängt. Bis dahin hielt er es vor allem mit Bier und Schnäpsen.

Die größte Hilfe bei dieser Anstrengung waren für ihn die Anonymen Alkoholiker. Bei dieser Selbsthilfegruppe firmiert er bis heute – als gewöhnliches Mitglied, wie er im Gespräch mit dem SÜDKURIER mehrfach unterstreicht.

Warum Werner anonym bleiben möchte

Wir nennen ihn in diesem Artikel nur Werner. „Der Nachname soll nicht in der Zeitung stehen“, sagt er. Das sei gegen die Regeln der Anonymen Alkoholiker (AA), die sonst nicht mehr anonym wären. Logisch. Aus diesem Grund lässt er sich auch nicht erkennbar fotografieren. Also kein Gesicht. Aber seine Hände an einem Glas mit Mineralwasser lässt er gerne ablichten. In seinem Wohnzimmer in einer Stadt im Schwarzwald treffen wir uns. Dort sind auch die Bilder entstanden.

Der chronische Griff zur Flasche ist in der Coronazeit besonders verführerisch. Den Anonymen Alkoholikern nimmt die Pandemie das ...
Der chronische Griff zur Flasche ist in der Coronazeit besonders verführerisch. Den Anonymen Alkoholikern nimmt die Pandemie das wichtigste therapeutische Instrument: die regelmäßigen Treffen.

Der Stuhlkreis der AA hat ein großes Problem: Er kann und soll sich nicht mehr treffen. Alle öffentlich zugänglichen Räume in Werners Stadt sind geschlossen. Die AA-Mitglieder wären in der Corona-Logik viele Menschen aus zu vielen Haushalten. Damit schnappen auch die kirchlichen und kommunalen Räume zu, die den Anonymen bisher offenstanden. Sogar große Psychiatrien wie Rottenmünster (Rottweil) oder die Reichenau nähmen die ehemaligen Suchtkranken nicht als Gäste auf, sagt Werner. So stehen sie draußen vor der Tür, ohne physische Begegnung, die in diesem Fall besonders wichtig wäre.

Ohne Austausch ist die Gefahr für einen Rückfall groß

Damit entfällt das zentrale Instrument der Kranken, der Entwöhnten und ihrer ehrenamtlichen Betreuer: Die regelmäßige Zusammenkunft, die zugleich Kontrolle, Austausch und auch Lebensberatung ist. Ein Online-Meeting kann das nicht ersetzen. So steigt die Gefahr von Rückfällen in der aktuellen Krise.

Corona ist für Menschen, die in diesem Punkt labil sind, eine mittlere Katastrophe, sagt Werner. Der verlorene Kontakt zu Menschen in derselben Gefährdungslage führt sie zurück auf die Klippe. Die Sehnsucht nach der Flasche ist chronisch.

Sucht Nummer eins im Griff: Alkohol. Heute trinkt Werner viel Wasser – und gelegentlich ein Glas Milch.
Sucht Nummer eins im Griff: Alkohol. Heute trinkt Werner viel Wasser – und gelegentlich ein Glas Milch. | Bild: Fricker, Ulrich

Werner weiß wohl, wovon er spricht. Alkoholismus nennt er eine „unheilbare tödliche Krankheit, die nicht geheilt und nur zum Stillstand gebracht werden kann.“ Mit seinem eigenen Überkonsum geht er offen um, er nimmt ihn als warnendes Beispiel. Seit mehr als 36 Jahren sei er trocken, berichtet er.

Doch weiß er um die verführerische Kraft eines frisch gezapften Pilses mit Schaumkrone. Inzwischen ist er soweit, dass ihn Alkohol nicht täglich und zwanghaft anspringt. Doch er weiß, dass es auch späte Rückfälle geben kann, zu jeder Zeit. Der Entzug ist wie Lebenslänglich auf Bewährung. Wenn der heute Tag gut ist, kann es morgen schon dumm laufen. „Du hast nie eine Garantie auf morgen“, hat er gelernt.

Pils und Zigarette

An seine Rauschzeit denkt er mit Grauen zurück. „Ich konnte nur leben mit Fürstenberg und Reval„, bekennt er. Als junger Mann war er überzeugt, dass ein „rechter Kerle“ auch rechtschaffen saufen müsse. Auf der Fasnacht verspottete er jene Narren, die sich an einen Sprudel hielten. Heute geht er, wenn auch schweren Herzens, gar nicht mehr unter die Larve. Fasnacht ohne Hochprozentiges? Geht nicht. Da ist er sich mit seiner bitter närrischen Erfahrung ziemlich sicher.

Sucht Nummer zwei überwunden: Rauchen.
Sucht Nummer zwei überwunden: Rauchen. | Bild: Fricker, Ulrich

Inzwischen stellt der Rentner gerne seine Lebenserfahrung zur Verfügung. Bei den Anonymen ist er Gleicher unter Gleichen. Er will nicht überheblich sein und hält sich mit altklugen Ratschlägen zurück. Die Mitglieder kommen aus allen Gesellschaftsschichten. Der Schnaps findet überall gute Freunde.

Alte Bekannte wollten nichts mehr von ihm wissen

Mancher konsultiert ihn nach einer Sitzung und wünscht privaten Rat. Darauf geht Werner ein. Er ist ein gesprächiger Mensch mit einem tiefen Schatz an Erfahrungen. Aber er spielt nicht den Obmann, weil es in der Gruppe der AA keine Hierarchien und keine Obleute gibt. Auch deshalb bleibt es beim Vornamen.

Alles Wichtigtun ist weit von ihm – zumal er damals erkannte, wie schnell sich alte Freunde und Bekannte schnell davonstahlen, als er auf die schiefe Bahn rutschte. Die Trinkfreunde von damals gingen flugs auf Distanz. „Über Alkoholismus spricht man nicht“, lernte er damals. Man freut sich am Gute-Laune-Bär – und meidet den Trinker, und das von einem Tag auf den anderen.

Werner spricht inzwischen sehr wohl darüber. Regelmäßig hält er an Schulen Vorträge über diese Sucht. Auch in der Familie war der geläuterte Vater ein Thema. Beide Kinder waren ins Bild gesetzt. Sie holten den eigenen Vater in ihre Schulklassen, um vom Kampf gegen die Sucht zu berichten. Inzwischen referiert er sein Lebensthema vor den Schulkameraden seiner Enkel.

Depression, Hörsturz, Frührente

Werner ist ein guter Erzähler. Plastisch schildert er die Kämpfe gegen die Droge, die mitten in der Gesellschaft sitzt. „Die ersten Jahre waren furchtbar“, erinnert er sich. Andere Krankheiten kamen dazu. Er war mit Depressionen konfrontiert, die bis zu Selbstmordgedanken reichen. Ein Hörsturz kam und ging wieder, aber nur zur Hälfte. Er hinterließ hammerartige Geräusche. Das Arbeiten fiel ihm immer schwerer, so wurde er mit Anfang 50 pensioniert. Das wäre ein klassischer Auslöser für einen Rückfall. Doch Werner hielt stand, er blieb sauber und hielt Vorträge.

Ohne die Gruppe der Anonymen Alkoholiker hätte er es nicht geschafft. Auch deshalb drängt er auf das Öffnen von Räumen, damit sich die Gruppe treffen kann.