Sobald Henning Zillessen morgens aufwacht, denkt er an seine Schule: „Wenn der Wecker klingelt, geht der erste Blick aufs Handy: Sind alle da?“ Als Schulleiter der Hans-Thoma-Grundschule in Tiengen (Landkreis Waldshut) muss Zillessen sich darum kümmern, dass erkrankte Lehrer vertreten werden, damit der Unterricht nicht ausfällt. Aufgrund des bundesweiten Lehrermangels ist das auch in Tiengen eine große Herausforderung.
Es ist nicht die einzige Aufgabe, die Zillessen als Schulleiter hat. Er steht im Kontakt mit Eltern, Schülern, Lehrern, ist gemeinsam mit dem Schulträger für Veränderungen am Schulgebäude verantwortlich, erstellt Stundenpläne. Die Liste ist lang. „Ich bezeichne mich selbst als Schulmanager“, sagt der 59-Jährige.
Kommissarische Schulleitung heißt doppelte Arbeit
Von diesen Schulmanagern gibt es im Land aber zu wenige. Derzeit sind 248 Schulleitungsstellen in Baden-Württemberg ausgeschrieben. Besonders macht sich das an den Grundschulen bemerkbar. Es gibt in Baden-Württemberg 1904 reine Grundschulen, die nicht im Verbund mit Werkrealschulen oder Gemeinschaftsschulen existieren.
Laut Kultusministerium sind hier derzeit 143 Stellen vakant, davon sind 123 Stellen kommissarisch besetzt. Das heißt, dass eine Lehrkraft übergangsweise die Aufgaben der Schulleitung übernimmt.

Auch Zillessen leitet eine weitere Grundschule kommissarisch: die Grundschule Dettighofen-Baltersweil, gut 20 Autominuten von der Schule in Tiengen entfernt. Zweimal die Woche ist er dort, hat vier bis fünf Präsenzstunden und steht ansonsten im engen Austausch mit einer Kollegin vor Ort. Für ihn bedeutet das den doppelten Aufwand: zweimal Elternbeirat, zweimal Schulkonferenz, zweimal Verantwortung übernehmen.
Vor allem an kleinen Schulen wie der Grundschule Dettighofen-Baltersweil haben Schulleiter einen enorm hohen Verwaltungsaufwand. Denn hier gibt es keine Schulsekretärin. Daher gehört zu Zillessens Aufgaben auch das Übertragen der Daten von Erstklässlern in Tabellen mit Namen, Alter, Anschrift, Elternkontakt.
Notfallmanagement statt Schulgestaltung
Das kostet Zeit. Zeit, die er eigentlich für andere Aufgaben bräuchte. „Wir betreiben nur noch Notfallmanagement, wir können gar nicht selbst gestalten“, sagt Zillessen. Dabei sei das seine eigentliche Aufgabe als Schulleiter.
Der Schulleitermangel wirke sich auch auf die Kinder aus. Zillessen hat den Anspruch, jedes Kind optimal zu begleiten. Dabei geht es um die Schulentscheidung nach der vierten Klasse, um Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf oder auch um Streitereien auf dem Schulhof. Doch sein Zeitfenster lasse diese Begleitung nicht zu.
Das Kultusministerium Baden-Württemberg möchte dem Schulleitermangel mit einem mehrstufigen Entlastungskonzept entgegenwirken. Die erste Stufe wurde bereits umgesetzt: Das Gehalt der Schulleiter wurde erhöht. Bis 2020 erhielten Schulleiter an Grundschulen mit bis zu 80 Schülern eine Besoldung nach A12 mit einer Amtszulage von 180 Euro.
Jetzt erhalten die Schulleiter in Baden-Württemberg unabhängig von der Schülerzahl A13. Die Gehaltsklasse beginnt bei knapp 57.000 Euro brutto im Jahr. Je nach Familienstand und Dienstalter erhalten Schulleiter mehr Lohn.
Geld löst keine Probleme
„Das Geld ist nicht entscheidend. Das eigentliche Problem ist die zeitliche Belastung“, sagt Schulleiter Henning Zillessen. Er ist Mitglied im Verband Bildung und Erziehung (VBE) und leitet das Referat Schulleitung in der Region Südbaden. Zillessen fordert, dass Schulleiter im Verwaltungsbereich durch Fachkräfte entlastet werden und ihnen so mehr Zeit für andere Aufgaben bleibt.
So sieht das auch Marc Jooss. Der 49-Jährige ist Schulleiter an der Grundschule am Kohlenbach in Waldkirch in der Nähe von Freiburg. „Das Geld ist nett zu haben“, sagt Jooss. „Aber es löst keine Verwaltungsprobleme.“ Gerade habe die Konrektorin seiner Schule mitgeteilt, dass sie wegen Überlastung nicht weitermachen könne. „Das ist kein Einzelfall“, so Jooss.
Ein Problem sei die Berechnung der sogenannten Leitungsstunden. Das ist die Zeit, die von den Unterrichtsstunden eines Rektors abgezogen wird, damit er Aufgaben der Schulleitung übernehmen kann. Die Anzahl der Leitungsstunden richtet sich nach der Schülerzahl. Bis zur 20. Klasse erhält ein Schulleiter in Baden-Württemberg pro Klasse 1,25 Leitungsstunden pro Woche. Bei mehr als 20 Klassen wird die Zeit gestaffelt.
Das bedeutet: Je mehr Schüler eine Schule hat, desto mehr Leitungsstunden erhält der Schulleiter. Eine Leitungszeit von mindestens zehn Stunden ist für Schulleitungen an kleinen Grundschulen mit weniger als 40 Schülern gesichert. Das reicht laut Jooss aber nicht aus.
Zudem beziehen sich die Leitungsstunden auf alle Lehrkräfte, die mit Schulleitungsaufgaben betraut sind. Eine Schule muss mindestens 101 Schüler haben, damit es überhaupt eine Konrektoren-Stelle gibt. Wenn eine Schule einen Konrektor hat, dann erhält auch er seine Leitungsstunden über das Kontingent des Schulleiters.

Zwei konkrete Forderungen hat Jooss, der Mitglied in der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ist, an das Kultusministerium: Konrektoren müssen selbst Leitungszeit erhalten, ohne von den Stunden des Schulleiters abhängig zu sein. Das würde die Schulleiter entlasten, da sie keine Leitungsstunden abgeben müssten.
Und er fordert die Einführung des Zwei-Pädagogen-Prinzips, dass es also pro Klasse zwei Lehrerstellen an der Schule gibt. „Das ist ein Traumwunschgedanke, das ist klar“, sagt Jooss. Denn beim aktuellen Lehrermangel ist es gar nicht möglich, so viele Lehrkräfte an einer einzigen Schule einzusetzen. Es würde den Schulen aber eine Art Puffer ermöglichen, wenn Unterrichtsstunden vertreten werden müssen. Und es würden personelle Ressourcen für mehr Gestaltung an den Schulen frei werden.
Was das Ministerium plant
„Wir lassen die Grundschulen keineswegs allein“, teilt eine Pressesprecherin des Kultusministeriums auf SÜDKURIER-Anfrage mit. Im kommenden Schuljahr werde die Leitungszeit an kleinen Schulen von zehn auf elf Wochenstunden erhöht.
Dem generellen Lehrkräftemangel wirke man mit „einem ganzen Bündel an Maßnahmen“ entgegen. So seien die Studienplätze im Grundschullehramt in Baden-Württemberg von 970 Plätzen auf 1672 Plätze im Jahr 2018/2019 erhöht worden. Es dauere allerdings noch, bis diese zusätzlichen Lehrkräfte zur Verfügung stehen.
Ob Schulleiter wie Henning Zillessen und Marc Jooss bis dahin durchhalten, ist nicht sicher. „Wir sind schon an der Grenze des Machbaren“, sagt Jooss. „Man kann die Leute hier auch verheizen.“ Er macht seinen Job trotzdem gerne, genau wie Zillessen. Für ihn ist es „der schönste Beruf der Welt“. Aber er weiß nicht, wie lange das noch gut geht: „Ich hoffe, dass mich vor der Rente nicht der Schlag trifft.“