Als Lothar Degen am Donnerstag nach dem Aufstehen aus dem Fenster schaute, da wurde er sofort an die Ausgangssperre in seinem Heimatort Riedböhringen erinnert: Sein Blick fiel auf einen Streifenwagen. Degen, der den bekanntesten Sohn Riedböhringens, Kardinal August Bea, einst beim Gottesdienst in der örtlichen St.-Genesius-Kirche als Messdiener unterstützte, wohnt am Ortsausgang des Blumberger Stadtteils. In dieser idyllischen Landschaft leben nur eine Handvoll Menschen, entsprechend wenige Autos fahren an Degens Haus vorbei. Erst recht keine Streifenwagen.
Der frühere Ortsvorsteher ist in Rente, sein Tagesablauf wird durch die Ausgangssperre kaum durcheinander gewirbelt. Er hält sich mit seiner Frau häufig im großen Garten auf und geht mit ihr wie üblich spazieren. Das war an Tag eins der Ausgangssperre noch strikt untersagt, da durften die eigenen vier Wände nicht verlassen werden. In diesem Fall hat die Stadtverwaltung nachgebessert, die Dorfbewohner dürfen jetzt raus an die frische Luft. Allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes. Menschengruppen dürfen sich keine bilden. Degen kann mit den Einschränkungen gut leben, denkt aber auch an diejenigen, die arbeiten gehen müssen oder in einer kleinen Wohnung eng aufeinander hocken: „Man kann nur hoffen, dass der Spuk bald vorbei ist.“
Degens Nachfolger als Ortsvorsteher ist Gerhard Fricker. Er hat beobachtet, dass die Corona-Krise seine Mitbürger in zwei Lager aufteilt: Auf den einen Seite stünden jene, denen die Pandemie sehr viel Angst mache. Auf der anderen Seite gebe es diejenigen, die ruhig blieben und furchtlos das Ende der Pandemie abwarteten. Seiner Beobachtung nach verhielten sich die Riedböhringer ruhig und besonnen. Weshalb die Coronavirus-Fallzahl mit 28 Infizierten gerade in seinem Dorf so hoch ist, darüber will er nicht spekulieren. Denn um eine auf Fakten basierende Antwort geben zu können, müsste er genau wissen, wer sich wann und wo angesteckt hat. Einen Zusammenhang mit den Busreisen nach Ischgl am 7. März sieht er aber auch.

Die 19-jährige Miriam Fehrenbach ist in den Semesterferien in ihr Heimatdorf zurückgekehrt. Sie studiert in Freiburg Physik und hatte sich darauf gefreut, in der vorlesungsfreien Zeit wieder viel Zeit mit ihren alten Freundinnen verbringen zu können. Das ist jetzt nur eingeschränkt möglich. Und so sitzt sie, anders als geplant, über ihren Fachbüchern, und geht alleine oder mit ihrem Bruder joggen. Oder sie lenkt sich mit Brettspielen ab, die in ihrer Familie momentan eine Renaissance erleben. „Langweilig wird mir nicht“, sagt die junge Frau.

Gute Nachrichten kommen auch von Max Kreutter, dem Riedböhringer Chocolatier. Er berichtet, noch kurz vor Ausbruch der Corona-Krise, 80 Kilogramm Kuvertüre bei seinem belgischen Lieferanten bestellt zu haben. Keinem seiner Kunden müsse bange sein, beim anstehenden Osterfest auf seine Schokoladen-Hasen verzichten zu müssen. Da einige auswärtige Schokoladenfreunde Riedböhringen wegen der Ausgangssperre meiden, verkauft er sein Naschwerk jetzt auch über einen Blumberger Bäcker. Kreutter wohnt direkt an der Hauptstraße und hat beobachtet, dass mindestens alle zwei Stunden ein Streifenwagen durchs Dorf patrouilliert. Die Polizisten hielten immer wieder Autos an. Im Rahmen der Ausgangssperre kontrollieren die Beamten, wie viele Insassen an Bord sind , ob diese miteinander verwandt sind und wohin die Reise geht.

Florian Fluck von der gleichnamigen Riedböhringer Holzbau GmbH ist von der Ausgangssperre kaum betroffen: „Wir dürfen Gott sei Dank arbeiten.“ Zwei Drittel seiner Verwaltungsmitarbeiter sind im Homeoffice, seine Schreiner und Zimmerleute arbeiten jetzt in kleineren Teams. Sie fahren auch nicht mehr gemeinsam auf Baustellen, damit sie sich nicht gegenseitig anstecken. Anfangs hätten einige Mitarbeiter gelächelt, als er ihnen Hygienehinweise gab. Heute nicht mehr.
Fluck hat als Generalunternehmer gerade einen großen Auftrag in Zimmern, die Innentüren dafür sollten aus Italien kommen, wurden aber wegen der Corona-Krise nicht geliefert. Also musste er sich nach einem anderen Lieferanten umsehen – was ihn zeitlich in Verzug brachte. Das wiederum schlägt auf die Liquidität seiner Firma durch. Anders als die großen Industriebetriebe muss er nicht komplett schließen, Schwierigkeiten gibt‘s dennoch genug.
Ausgangssperre
- Verboten: Die Riedböhringer müssen einen „triftigen Grund“ haben, um ihre vier Wände verlassen zu dürfen. In den Wald gehen, um dort Holz aufzuarbeiten, ist jetzt nicht mehr zulässig, nach Hüfingen zum Einkaufen zu fahren auch nicht. Und wer innerhalb Riedböhringens umzieht, muss beachten, dass maximal zwei Helfer sperrige Teile transportieren dürfen. Gleichzeitig dürfen Kinder nicht mehr zusammen Fußball spielen. Schmerzlicher ist da schon, dass die Ausgangssperre der Liebe im Weg steht. Ein Riedböhringer darf seine Auserwählte nicht besuchen, wenn diese jenseits der Gemarkungsgrenzen wohnt.
- Erlaubt: Für Liebende gibt es aber doch eine Möglichkeit, zusammen zu kommen: Die Auserwählte darf ihren Partner in Riedböhringen besuchen. Weiterhin möglich ist es beispielsweise auch, auf den Friedhof zu gehen, um ein Grab zu pflegen. Erlaubt ist außerdem, Arbeitsmaterial aus seinem Betrieb in Riedböhringen zu holen, damit Homeoffice möglich ist. (hon)