„Es war der Schock meines Lebens. So etwas habe ich in Singen noch nie erlebt, und ich bin hier geboren“, sagt eine junge Frau dem SÜDKURIER und will aus Angst nicht mit Namen genannt werden.
Wie viele andere Passanten wurde auch sie am Dienstagnachmittag unfreiwillig Augenzeugin einer Massenschlägerei in der Singener Innenstadt zwischen zwei syrischen Großfamilien. Zehn Menschen wurden laut Polizei verletzt, davon müssen vier stationär in Spitälern behandelt werden. Laut Zeugen soll auch ein Messer im Spiel gewesen sowie Blut geflossen sein.
Zu wenig Einsatzkräfte zu Beginn?
„Vorm Cano hat‘s begonnen, Frauen haben geschrien und zwei Riesengruppen sind aufeinander losgegangen“, sagt die Frau. Dann habe sie den Notruf gewählt und mitgeteilt, dass es mehr Einsatzkräfte brauche, weil zu Beginn der Auseinandersetzung nur eine Polizeistreife vor Ort gewesen sein soll und sie Angst um ihr Kleinkind gehabt habe.

Auch eine weitere Singenerin bestätigt den Ursprung der Massenschlägerei beim Einkaufszentrum Cano: „Vor dem Haupteingang war ein Herumgeschrei, ein Haufen junger Männer hat herumgepöbelt, dazwischen war die Polizei mit Pfefferspray. Wir haben uns nicht getraut, durch den Haupteingang zu gehen“, sagt sie.
„Fast in Blutlache getreten“
Am Rückweg habe die Frau gesehen, dass ein junger Mann vor dem Cano verletzt am Boden lag und nicht mehr alleine aufstehen konnte, was auch dem SÜDKURIER vorliegende Videoaufnahmen bestätigen. Rettungssanitäter hätten ihn weggetragen. „Kurz darauf sind wir beim H&M fast in eine Blutlache getreten, konnten gerade noch ausweichen“, sagt die Singenerin. Es seien drei oder vier Tellergroße Blutflecken gewesen. „Sowas kommt nicht von einer Platzwunde. Da muss schon ordentlich was passiert sein.“ Sie vermutet eine Stichverletzung.
Spätestens bei diesem Anblick dürfte bei vielen Menschen aus der Hohentwiel-Stadt eine hässliche Erinnerung an die Singener Messerattacke vom Dezember 2020 wach geworden sein: Damals hatten acht Männer der syrischen Großfamilie A. einen Kleinbus am Friedrich-Ebert-Platz attackiert und drei Mitglieder einer anderen syrischen Familie unter anderem mit einem Messer zum Teil lebensgefährlich verletzt.
Im Oktober 2021 verurteilte das Konstanzer Landgericht die acht Angreifer in einem Hochsicherheitsprozess in Stuttgart-Stammheim zu mehrjährigen Haftstrafen, wobei zwei Angreifer eine Bewährungsstrafe mit einer Probezeit von drei Jahren erhielten.
Verurteilter bei Massenschlägerei dabei
Laut SÜDKURIER-Informationen war zumindest einer der beiden auf Bewährung verurteilten Männer am Dienstagnachmittag auch in die Massenschlägerei in der Singener Innenstadt verwickelt. Sein Anwalt sagt auf Anfrage: „Ja, das stimmt, dieser Vorwurf ist vorhanden. Aber ich gehe davon aus, dass er entlastet wird“, sagt der Radolfzeller Strafverteidiger Björn Bilidt. Angehörige von Familie A. hätten ihn kontaktiert, nicht aber sein Mandant, der seines Wissens nach auf freiem Fuß sei.
Friedlich oder Aggressiv?
Auf weiteren Videoaufnahmen vom Tattag ist zu sehen, wie der in Stammheim Verurteilte in einer großen Männergruppe vor dem Singener Einkaufszentrum Cano steht, während ein am Boden liegender Mann verarztet wird. In einem zweiten Video prügeln sich zwei Gruppen an Jugendlichen in der Singener Innenstadt, wobei Bilidts Mandant mehrmals dazwischen zu gehen scheint und mehr oder weniger erfolgreich versucht haben dürfte, die Streithähne voneinander zu trennen.
Insider aus der arabischen Community im Hegau berichten, dass es zuletzt eine Reihe von Zwischenfällen und Anzeigen gegen Familie A. gegeben haben, was die Polizei auf Anfrage mangels der noch verworrenen Situation kurzfristig nicht bestätigen kann.
Anwalt Bilidt widerspricht den Vorwürfen: „Es muss aufgeklärt werden, was der Anlass (für die Massenschlägerei, Anm.) war und wer was gemacht hat. Meines Wissens nach verhält sich die Familie A. vorbildlich und ruhig in Singen“, sagt er dem SÜDKURIER.
„Gleiche Clans, aber jüngere Generation“
Gut informierte Ermittlerkreise haben dem SÜDKURIER jedoch bestätigt, dass in die Massenschlägerei am Dienstag die gleichen syrischen Familienclans verwickelt sind, wie schon bei der Singener Messerattacke im Dezember 2020, diesmal allerdings eine jüngere Generation.
Aus diesem Grund sei die Auseinandersetzung auch „deutlich glimpflicher“ ausgegangen. Es sei zu „keinen massiven Stichverletzungen“ gekommen, so die Ermittler, die damit indirekt jedoch den Einsatz zumindest eines Messers bestätigen.
Laut einem Vertreter der Opferfamilie der Singener Messerattacke vom Dezember 2020 sei jedoch kein Mitglied seiner Familie am Dienstag bei der Massenschlägerei in der Innenstadt involviert gewesen. Vielmehr handele es sich bei den aktuellen Widersachern der Großfamilie A. um eine dritte syrische Familie in Singen, deren Namen dem SÜDKURIER vorliegt. Alle drei Familien sollen aus dem selben „Dorf“ im Bürgerkriegsland Syrien stammen, der 9.500-Einwohner-Stadt Muhasan am Fluss Euphrat.