Eigentlich will die Lehrerin nur, dass der Grundschüler einen Happen von seinem Frühstück isst. Doch er möchte nicht. Sie geht an seinen Tisch, beugt sich herunter. „Zeig doch mal dein tolles Essen“, sagt sie, möchte ihn aufmuntern.
Dann rastet der Erstklässler aus. Er beginnt, die Lehrerin zu boxen, sie zu treten. Er trifft seine Klassenlehrerin im Bereich des Brustbeins und an der Rippe. So erzählt es die Lehrerin, die an einer Grundschule im Kreis Tuttlingen unterrichtet. Ihren Namen möchte sie nicht nennen, um den Ruf der Schule nicht zu gefährden.
Sie zieht die Schulleitung hinzu, schließlich wird der Junge von der Schule abgeholt. „Ich stand so unter Adrenalin, dass ich den Schmerz zunächst gar nicht bemerkt habe“, sagt die Lehrerin. Die Ärzte verschreiben ihr Schmerzmittel, sie macht eine Schmerztherapie, noch heute bekommt sie regelmäßig Spritzen.
Bleibende Schmerzen hinterlassen
Der Vorfall ist nun ein halbes Jahr her. Sie habe eine Knochenhautentzündung davon getragen. Noch immer verspürt die Frau einen stechenden Schmerz im Brustbereich. „Langes Sitzen, gerade beim Korrigieren, ist schmerzhaft“, sagt die Lehrerin. „Es beeinträchtigt mein Leben.“
Die Lehrerin ist seit 20 Jahren im Schuldienst tätig und es ist nicht das erste Mal, dass sie körperliche Angriffe erlebt. Vor einigen Jahren habe sie eine Schülerin in der achten Klasse beim Rauchen erwischt. „Sie hat mir dann eine Backpfeife gegeben“, sagt die Lehrerin.
Der Ton wird respektloser
Sie beobachtet, dass Gewalt an Schulen, auch gegenüber Lehrern, zugenommen hat. „Es gibt viel mehr Beleidigungen. Der Umgangston ist respektloser geworden“, sagt sie. Das würden auch Kollegen an anderen Schulen bestätigen.
Mit ihren Beobachtungen ist die Lehrerin nicht allein. Im Auftrag des Verbands Bildung und Erziehung (VBE) befragt das Sozialforschungsinstitut Forsa Schulleitungen in Bund und Land in regelmäßigen Abständen zum Thema Gewalt gegen Lehrkräfte. Die Ergebnisse der aktuellsten Umfrage stammen aus dem Herbst 2024.

Gewalt nimmt laut Studie zu
„Wir beobachten in Baden-Württemberg und im Bund eine erschreckende Entwicklung. Übergriffe auf Lehrkräfte haben drastisch zugenommen und pendeln sich auf einem hohen Niveau ein“, sagt Gerhard Brand, Bundesvorsitzender und Landesvorsitzender des VBE Baden-Württemberg.
Zwei Drittel der befragten Schulleitungen hätten angegeben, dass Gewalt gegen Lehrer an der eigenen Schule zugenommen habe. Dabei gehe es nicht nur um psychische Gewalt, also Beleidigungen und Bedrohungen. Es gebe auch zunehmend Cybermobbing sowie körperliche Angriffe.
In den vergangenen fünf Jahren habe es an 1000 Schulen in Baden-Württemberg körperliche Angriffe auf Lehrer gegeben. „Im Schnitt wurde an jedem Schultag in Baden-Württemberg eine Lehrkraft körperlich attackiert“, sagt Brand.
Beispiele sind zahlreich
Gewalt gegen Lehrer sei noch immer ein Tabuthema. So wie die Lehrerin aus dem Kreis Tuttlingen fürchten sich laut Brand viele Betroffene, dass sie ihrer Schule schaden könnten, wenn sie Vorfälle melden oder öffentlich machen. Beispiele gibt es indes viele.
Gerhard Brand berichtet von einem Fall, in dem ein Drittklässler am Morgen im Bus geprahlt habe, dass er an diesem Tag eine Lehrerin umhauen werde. „Beim Aussteigen schlug er einer Lehrerin, die Aufsicht vor der Schule hatte, von hinten zwischen die Schulterblätter und schließlich vorne auf das Brustbein.“
Täter sind jedoch nicht nur die Schüler. Auch Eltern verhielten sich zunehmend respektloser – bei Bedrohungen und Beleidigungen gehören sie laut VBE-Studie zur größten Tätergruppe. Auch die Lehrerin aus dem Kreis Tuttlingen hat das bereits erlebt: Einer ihrer Schüler habe nicht die geforderten Leistungen erbracht. Das habe sie der Mutter mitgeteilt. Diese habe zu Hause den Vater informiert.
Lehrer werden allein gelassen
„Am Telefon wurde er laut und sagte dann: Sie haben sich mit dem Falschen angelegt. Ich habe gefragt: Drohen Sie mir? Und er antwortete: Ja.“ Die Lehrerin war damals perplex, sagt sie heute. „Ich habe so etwas noch nie erlebt. Ich wusste gar nicht, was ich sagen soll.“ Der Vater erhielt ein Betretungsverbot für das Schulgelände, die Lehrerin meldete den Vorfall der Polizei.
Der VBE-Vorsitzende Gerhard Brand kritisiert, dass Lehrer weitgehend allein gelassen würden. Sie müssten privat Anzeige erstatten und für mögliche Anwaltskosten aufkommen. Er würde sich mehr Unterstützung vom Kultusministerium und den Schulbehörden wünschen, auch was Prävention betrifft. „Der Ausbau der Schulpsychologie und der Schulsozialarbeit wäre dringend nötig“, sagt Brand. Insbesondere im Bereich der Schulpsychologie sei man in Deutschland weit vom internationalen Standard entfernt.
Der Grundschüler, der die Lehrerin aus dem Kreis Tuttlingen angegriffen hatte, entschuldigte sich am nächsten Tag bei ihr. Er wird weiterhin von der Lehrerin unterrichtet. „Ich bin vorsichtig geworden. Wenn er etwas nicht will, dann muss er es auch nicht machen“, sagt sie.
Ihr hilft, dass sie sich mit ihren Kollegen über solche Erlebnisse austauschen kann. Und sie kann auf die Unterstützung ihrer Schulleitung setzen: „Ich habe das Glück, eine super Schulleitung zu haben. Bei schwierigen Gesprächen ist immer jemand dabei, der hilft.“