Um es gleich vorweg zu nehmen: Ja, die krachende Niederlage von Martin Staab ist nicht ohne Beispiel. Im Jahr 2016 wurde in Überlingen Amtsinhaberin Sabine Becker spektakulär abgewählt: Sie kam nach acht Jahren im Amt im zweiten Wahlgang nur auf 12,1 Prozent der Stimmen. Der kürzlich verstorbene Tübinger Politikwissenschaftler Hans-Georg Wehling verglich das damals mit einer „öffentlichen Hinrichtung“. Dabei hatte Becker nach Ansicht von CDU-Stadtrat Günter Hornstein „in vielen Bereichen gut gearbeitet“.

Die damalige Überlinger Oberbürgermeisterin Sabine Becker, ihr Lebensgefährte Martin Hahn und ihre Tochter Nuria 2016 im Kursaal bei der ...
Die damalige Überlinger Oberbürgermeisterin Sabine Becker, ihr Lebensgefährte Martin Hahn und ihre Tochter Nuria 2016 im Kursaal bei der Bekanntgabe des Wahlergebnisses, an dem ihr Nachfolger Jan Zeitler von den Überlingern zum neuen Oberbürgermeister gewählt wurde. | Bild: Stef Manzini

Richtig knapp ging es dagegen 2013 in Singen zu, wo Herausforderer Bernd Häusler gegen Amtsinhaber Oliver Ehret im zweiten Wahlgang mit 50,2 Prozent die Nase vorn hatte. Als weiteres Beispiel kann die Wahl in der Gemeinde Reichenau gelten, wo 2009 der inzwischen verstorbene Amtsinhaber Volker Steffens Wolfgang Zoll unterlag, der im zweiten Wahlgang 65,5 Prozent der Stimmen holte.

Prominenteste Niederlage: Dieter Salomon in Freiburg

Abwahlen von sich wiederbewerbenden Bürgermeistern sind laut Statistischem Landesamt eine ausgesprochen seltene Erscheinung: Nur bei 57 Bürgermeisterwahlen, also bei 5,2 Prozent der von 2010 bis 2017 abgehaltenen Bürgermeisterwahlen beziehungsweise bei 8,3 Prozent aller Bürgermeisterwahlen, bei denen der Amtsinhaber erneut angetreten war, wurde der Amtsinhaber nicht mehr gewählt, hält das Landesamt fest. Auf umso mehr Interesse stoßen solche Abwahlen in der Öffentlichkeit.

Prominente Beispiele im Land: Freiburg 2018 – der landesweit bekannte Grüne Dieter Salomon unterlag im zweiten Wahlgang mit 30,7 Prozent der Stimmen gegen den parteilosen Herausforderer Martin Horn. Tübingens OB Boris Palmer setzte sich 2006 bereits im ersten Wahlgang mit 50,4 Prozent gegen Brigitte Russ-Scherer (SPD) durch.

Der Bürgermeister soll „einer von uns sein“

Timm Kern, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Landtag, wollte selbst nie Bürgermeister werden, aber in seiner Promotion im Fach Politik an der Uni Tübingen beschäftigte er sich eingehend mit dem Thema Abwahl, die streng genommen Nicht-Wiederwahlen sind. Zwischen 1973 und 2007 untersuchte Kern alle 160 Fälle im Land und fand heraus, dass alle Bürgermeister einen von zwei Fehlern gemacht hatten: „Die Wähler in Baden-Württemberg haben zwei tiefenpsychologische Sehnsüchte“, schildert Kern dem SÜDKURIER.

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Erstens Identifikation – sprich: Der Bürgermeister muss „einer von uns“ sein. Alle Verhaltensweisen – Abgehobenheit, Bürgerferne, ein unsympathisches Wesen -, die dem widersprechen, sind schädlich. Zweitens Projektion: „Das ist die andere Seite der Medaille. Gleichzeitig soll der Bürgermeister Anführer und Vorbild sein.“ Da sich beide Gebote zum teil widersprechen, sei das oft ein Ritt auf der Rasierklinge.

Für Amtsinhaber ist es schwerer geworden

Mit dem, was das Stadtoberhaupt geleistet hat, habe diese Bewertung oft nichts zu tun, so Kerns Beobachtung. Die Abgewählten seien deshalb meist schockiert: „Ich habe doch die Verschuldung senken können und die Sporthalle gebaut“, seien deren Gedanken. Ganz oft gingen Bürger aber davon aus, dass Bürgermeister fachlich gut sind. Außerdem stelle sich die Frage, inwieweit deren Arbeit kompetent beurteilt werden könne. Denn auch wenn das Amt des Bürgermeisters ein machtvolles sei, sei er doch immer von der Zustimmung des Gemeinderats abhängig.

Der Landtagsabgeordnete Timm Kern (FDP) hat sich in seiner Doktorarbeit ausführlich mit Abwahlen von Bürgermeistern beschäftigt.
Der Landtagsabgeordnete Timm Kern (FDP) hat sich in seiner Doktorarbeit ausführlich mit Abwahlen von Bürgermeistern beschäftigt. | Bild: Franziska Kraufmann

Nach Kerns Analyse haben die Abwahlen in den letzten Jahrzehnten zugenommen. in den 70er-Jahren habe es im Jahr nur ein oder zwei Abwahlen gegeben, später durchaus zehn. „Für Amtsinhaber ist es schwieriger geworden“, bilanziert Kern. Gleichzeitig spreche das volatilere Wahlverhalten für ein höheres Maß an Emanzipation der Bürger.