Herr Hengel, wir haben uns vor gut einem Jahr schon einmal unterhalten. Damals stand der Biontech-Impfstoff kurz vor der Zulassung. Trotzdem waren Sie nicht allzu optimistisch damals. Sie sagten: „Wir brauchen weiterhin viel Geduld“. Das kann man noch immer stehen lassen oder?
Ja, der Satz ist immer noch richtig. Gleichzeitig hat die Erfindung der mRNA-Impfstoffe sicherlich eine Wende in der Pandemiebekämpfung gebracht. Die Impfung hat in Deutschland hunderttausende von Leben gerettet. Historisch betrachtet haben wir die erste Pandemie, deren Verlauf durch eine Impfung wesentlich beeinflusst werden konnte, das ist ein bemerkenswerter Fortschritt der modernen Medizin. Auch wenn die momentanen mRNA-Impfstoffe technisch weiter verbessert werden müssen. Zum Beispiel ist es so, dass man durch die Impfstoffe der ersten Generation noch keine Schleimhautimmunität erzielt. Deswegen schützt die Impfung zwar vor schweren Infektionen, aber weit weniger vor der Übertragung des Virus.
Haben Sie die Impfstoffe also nicht enttäuscht? Der gemeine Bürger hatte ja geglaubt, mit der zweiten Impfung sei alles erledigt.
Für Virologen und Vakzinologen kommen die Impfdurchbrüche nicht überraschend. Mit Impfversagen muss man immer rechnen. Denn nicht jede Impfung funktioniert so gut wie die Masern-Impfung. Andere Einschränkungen kommen durch die Natur des Coronavirus: Dass es in der Lage ist, so viele Varianten zu entwickeln, damit hat man vor einem Jahr noch nicht gerechnet. Das ist ja jedes Mal fast die Entstehung eines neues Virus. Wir können froh sein, dass es ein Stück Kreuzimmunität zwischen den Virusvarianten gibt und dass unsere Impfstoffe, die ja bisher allein auf ein Antigen ausgerichtet sind, das Spike-Antigen, noch funktionieren.
Das heißt, die nächste Variante könnte bedeuten, dass uns die Impfstoffe gar nicht mehr schützen?
Genau, die Entwicklung wäre im schlimmsten Fall, dass wir weitere Varianten bekommen, die vom jetzigen Impf-Antigen, das wir bisher einsetzen, nicht mehr erreicht werden. Wir brauchen deshalb in Zukunft eine konzeptionelle Erweiterung der Impfstrategie. Nur auf das Spike-Protein zu setzen, wo die heutigen Impfstoffe ansetzen, ist längerfristig zu wenig. Wir müssen uns Gedanken machen: Wie können wir den Impfstoff verbreitern und Antigene auswählen, die das Virus nicht so leicht verändern kann?
Haben Sie da schon eine Idee?
Natürlich hat der Virologe da eine Idee. (lacht) Man denkt davor allem an die inneren Proteine des Virus, die für die T-Zellen-Erkennung besonders geeignet und wichtig sind. Die können in die Impfstoffe mit eingebaut werden. Das lässt sich über die mRNA-Technologie auch relativ leicht bewerkstelligen. Ich hoffe, dass wir Wissenschaftler und die Zulassungsbehörden das den großen Impfstoffherstellern klarmachen können.
Also sind die Impfstoffhersteller noch nicht dabei?
Nein, die sind wohl vor allem damit beschäftigt, die große Nachfrage nach dem Impfstoff zu befriedigen. Deren Ziel ist deshalb erstmal nicht, einen neuen Impfstoff herzustellen, was ja neue Forschung und ein neues Zulassungsverfahren bedingt.

Wie schnell würde das gehen?
Das würde sicherlich einige Monate oder ein Jahr in Anspruch nehmen. Wir haben zwar ein beschleunigtes Zulassungsverfahren, aber man muss wieder Probanden rekrutieren und so weiter. Keine Frage: Das ist schon nochmal ein richtiges Stück Arbeit. Aber ich denke, weil Corona ein langfristiges Problem ist, um nicht zu sagen ein Dauerproblem, müssen wir uns auf diesen Weg machen.
Was hat Sie richtig überrascht in der Entwicklung der Pandemie im vergangenen Jahr?
Mich hat doch ernüchtert, dass es in unserer scheinbar aufgeklärten Gesellschaft einen nicht ganz kleinen Anteil der Bevölkerung gibt, der sich sehr hartnäckig gegenüber den Fakten verschließt. Wir haben einen durchaus gefährlichen Erreger vor uns, der als neue Naturgewalt auftritt. Und trotzdem gibt es Menschen, die sich einreden, das würde es gar nicht geben. Das hat mich schon erstaunt. Als Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin glaubt man doch an die Aufklärung und menschliche Begabung zur Vernunft.
Versuchen Sie noch aufzuklären?
Ja, natürlich. Und es gibt da auch positive Erfahrungen. Manche Leute kann man im persönlichen Gespräch überzeugen, dass die Impfung entscheidend ist, dass sie einen wichtigen Schutzeffekt für einen selber hat, aber auch für die Mitmenschen.
Was ist Ihr überzeugendstes Argument?
Manche kann man dadurch überzeugen, dass man ihnen klarmacht, dass wir inzwischen sehr gut wissen, wie das Virus Menschen krank macht. Es löst nämlich eine Art Autoimmunerkrankung aus. Wenn dieser Prozess in Gang kommt, führt es zu einem schweren Verlauf. Wenn es diesen Mechanismus nicht auslösen kann, ist es nur ein recht banaler Infekt. Das ist das, was viele Menschen nicht verstehen: Dass ein Erreger so unterschiedliche Konsequenzen produziert. Die Unterschiedlichkeit der Verlaufsformen haben damit zu tun, dass unser Immunsystem mit diesem Virus unterschiedlich umgeht.

Brauchen wir letztlich die Impfpflicht?
Das ist eine ganz schwierige Frage. Als Wissenschaftler, der an die Aufklärung glaubt, ist man kein Freund von Impfpflichten. Weil man überzeugt ist, dass Menschen selbst vernunftbegabt sind und nicht vom Staat gezwungen werden müssen. Aber möglicherweise gibt es den einen oder anderen, der gerne gezwungen werden will, um zur Vernunft zu finden. Ich bin da aber noch zögerlich.
Ich denke, eine Impfpflicht ist richtig für berufsbezogene Tätigkeiten, also für Menschen, die mit Kranken arbeiten, zum Beispiel. Aber eine bevölkerungsweite Impfpflicht muss sehr gründlich geprüft werden. Es muss etwa die ausreichende Versorgung mit Impfstoff sichergestellt sein und eine gute Wirksamkeit der Impfstoffe muss gegeben sein. Wenn, dann sollte die Impfplicht befristet sein.
Kann man durch Impfung diese Pandemie beenden?
Das Ende der Pandemie ist dann erreicht, wenn unsere Bevölkerung so viel Immunität erworben hat, dass das Virus nicht mehr schwer krank machen kann. Das kann man am schonendsten durch Impfung erreichen, oder durch Infektion und Krankheit, oder durch Durchbruchsinfektionen nach einer Impfung. Wenn die Durchbruchsinfektionen harmlos verlaufen, ist das gewissermaßen eine Variante der Boosterung. Vorausgesetzt man ist geimpft. Die Alternative der Zukunft sind verbreiterte Impfstoffe, die uns immuner machen gegen neue Varianten.
Sind uns Länder wie Schweden, Großbritannien oder Südafrika voraus, weil es dort bereits mehr Durchseuchung gegeben hat? Kommen sie schneller aus der Pandemie raus?
Es ist schon denkbar, dass diese Länder infolge der höheren Infektions- und Krankheitslast, die sie im Vergleich zu Deutschland hatten, nun weiter sind. Das heißt umgekehrt, dass Omikron bei uns eine größere Krankheitslast produzieren könnte als in anderen Ländern. In Südafrika, wo nur wenig geimpft wurde, hat sich die Omikron-Variante bei den Genesenen durchgesetzt. Das heißt, das ist eine Virusvariante, die sehr fit ist. Deswegen wissen wir eben noch nicht so genau, was Omikron für uns bedeutet. Und deshalb ist es schon richtig, dass wir Respekt vor dieser Variante haben.
Braucht es im Umgang mit Omikron noch eine neue Strategie?
Die Geimpften und die Genesenen sind gegen Omikron ja nicht wehrlos. Gleichzeitig ist es so wichtig, dass weiter geimpft und geboostert wird. Die Antikörper fallen gegenüber Omikron ziemlich aus, aber die T-Zellen reagieren. Deswegen ist es so wichtig, dass wir boostern – und zwar eigentlich zuerst die Menschen, die es am dringendsten brauchen. Durch die Schließung der Impfzentren gibt es jetzt aber leider keine Priorisierung mehr. Sie zu schließen, war ein großer Fehler.
Wenn künftig alle paar Monate geboostert werden muss, sollte man sie eigentlich gar nicht mehr schließen.
Ich würde für ständige Impfzentren plädieren. Man kann sie in vielerlei Hinsicht nutzen, nicht nur für die Pandemie. Wir müssen in absehbarer Zeit wieder mit starken Influenzawellen rechnen, weil die Influenza zwei Jahre lang ausgefallen ist. Man könnte ständige Impfzentren aber auch dafür gebrauchen, um die Impfquote bei Jugendlichen gegen Humane Papillomviren zu verbessern. Da sind wir in Deutschland mit einer international ganz schlechten Impfquote unterwegs. Wir können heute schon ausrechnen, wie viele Karzinome wir dadurch in 20, 30 Jahren bekommen werden.
In Baden-Württemberg lassen viele Eltern ihre Kinder nicht impfen. Die Stiko war da zögerlich mit ihrer Empfehlung. War das richtig?
Ich kann nachvollziehen, dass die Stiko da zögerlich ist, weil die Datenlage eben nicht so eindeutig ist. Es gibt immer noch widersprüchliche Berichte über die Krankheitsschwere bei Kindern. Möglicherweise bringt Omikron hier neue Bewegung, entsprechende Daten gibt es. Aber auch sie sollten in weiteren Studien bestätigt werden.
An der Stiko gab es viel Kritik im Laufe des Jahres: zu langsame Entscheidungen, Abweichungen von der Ema, von der Politik. Man stellt sich schon die Frage, ob die Stiko als ehrenamtliches Gremium den Aufgaben gewachsen ist.
Ich glaube, die Stiko muss ehrenamtlich sein. Es sollten keine Wissenschaftler sein, die von der Regierung abhängig oder weisungsgebunden sind. Diese Unabhängigkeit der Stiko macht ja ihre wissenschaftliche Glaubwürdigkeit aus. Dieses Vertrauen ist ihr Kapital. Der Wert dieses Kapitals erweist sich gerade jetzt in der Pandemie, wo viele Menschen verunsichert sind.
Die Frage ist aber: Was braucht sie noch, um ihre Aufgabe in der Pandemie gut zu machen? Sicher müsste man den wissenschaftlichen Apparat deutlich verstärken. Und vielleicht braucht sie künftig einen Vorsitzenden, der sich ganz ausschließlich dieser Aufgabe widmen kann. Dass die Stiko seit Jahrzehnten von pensionierten Wissenschaftlern geführt werden muss, weil nur Ruheständler diese Herkulesaufgabe hauptamtlich ausführen können, ist kein zukunftsfähiges Konzept. Tatsächlich wird hinter den Kulissen schon lange die Hauptamtlichkeit des Stiko-Vorsitzes gefordert.
In dieser Pandemie sind wir ja immer auf neue Wendungen gefasst. Wie gut kann man einschätzen, was im Jahr 2022 auf uns zukommt?
Wir wissen nicht, was das Virus noch an neuen Varianten kreieren kann. Man sollte es nicht unterschätzen. Es ist ein sehr vielseitiges Virus, das von Spezies zu Spezies wechseln und sich von dort neue Anregungen holen kann. Insofern ist immer mit Überraschungen zu rechnen. Deswegen denke ich, dass das Coronavirus dauerhaft bei uns sein wird. Ich glaube aber auch, dass wir in absehbarer Zeit in eine endemische Situation kommen, in der jeder eine Immunität aufgebaut hat und das Virus sich nicht mehr so leicht ausbreiten kann.
Mit wie vielen Jahren rechnen Sie denn?
Wie schnell das genau abläuft, kann niemand seriös vorhersagen. Es kann mit Omikron schon vorbei sein, aber vielleicht gibt es noch weitere relevante Wellen. Ich bin am Anfang der Pandemie schon gefragt worden, wie lange es denn dauert. Da habe ich gesagt: Ich denke, es dauert drei Jahre. Das hat mir viel Unverständnis eingetragen und wenig Sympathie, weil viele Leute gedacht haben, das ist so ein notorischer Schwarzmaler. Aber man sieht jetzt: Eigentlich dauert‘s halt drei Jahre, im übelsten Fall kann es natürlich auch vier dauern. Man weiß es nicht.