„Die angekündigte Sommerwelle ist leider Realität geworden.“ Es sind die Worte von Gesundheitsminister Karl Lauterbach nach dem erneuten Anstieg der Corona-Infektionszahlen. Nach der Aufhebung der Maßnahmen und fallenden Zahlen im Frühjahr ist die Inzidenz (Zahl der Infektionen pro 100.000 Einwohner binnen sieben Tagen) zuletzt wieder stark gestiegen. Die bundesweite Inzidenz liegt derzeit bei über 472, in Baden-Württemberg ist sie auf 330,6 gestiegen.
Auch in der Region steigt die Inzidenz in allen Kreisen wieder an, teils sogar deutlich, wie diese Übersicht über die Entwicklung der vergangenen sechs Wochen zeigt.
Dabei sind die Zahlen nur bedingt aussagekräftig, weil die Bereitschaft, sich testen zu lassen, nachgelassen hat: Wurden in der letzten Märzwoche noch weit über 2,3 Millionen Tests erfasst, so liegt der Wochenschnitt Anfang Juni nur noch bei 496.000 – und damit noch weniger als ein Viertel.
„Vor dem Hintergrund der erheblichen Untererfassung der tatsächlich stattfindenden Corona-Infektionen können die in den letzten Tagen gemessenen Inzidenzwerte nur so interpretiert werden, dass wir uns schon längst in einer neuen Coronawelle befinden“, sagt deshalb der Virologe Hartmut Hengel vom Institut für Virologie der Universität Freiburg.

Dafür spreche auch die wieder steigende Positivrate von PCR-Tests, sagt der Frankfurter Virologe Martin Stürmer aus eigener Erfahrung in seine Labor. Er geht deshalb davon aus, dass „wir uns am Beginn einer Sommerwelle“ befinden. Wie hoch sie ausschlage, sei schwer zu sagen. Stürmer geht aber davon aus, dass zumindest jene, die sich mit BA.2, der zweiten Variante von Omikron, angesteckt haben, sich weniger wahrscheinlich mit BA.4, einer der neuen Varianten, anstecken.
BA5 auf dem Vormarsch
Auf dem Vormarsch scheint aber vor allem BA.5 zu sein, eine weitere Variante von Omikron mit Parallelen zur Delta-Variante. Eine jüngste Analyse des baden-württembergischen Gesundheitsministeriums vom 6. bis 12. Juni ergab, dass bei rund jeder fünften sequenzierten Covid-19-Probe BA.5 nachgewiesen wird.

Der genaue Anteil der BA.4/5-Variante könne nur grob geschätzt werden, gibt Experte Hengel zu bedenken: „Denn bei einer ungenauen Gesamtinzidenz kann der Anteil der einzelnen Virussubtypen rein logisch nicht genau beziffert werden.“ Aber auch Hengel sagt: „Vieles spricht dafür, dass der BA.5-Subtyp auch in Deutschland an Fahrt gewinnt und möglicherweise andere Omikronsubtypen verdrängen kann.“
Die neuen Varianten sind „hochgradig ansteckend“, so Stürmer. Deshalb sei das Potenzial einer Sommerwelle auch höher – zumal es keine Coronaschutzmaßnahmen mehr gibt. Man dürfe sich nicht der „Illusion hingeben, dass Sars-Cov-2 im Sommer nicht da ist“, betont Stürmer.
Starke Symptome bei neuer Variante
Aber wie gefährlich ist die neue Variante? Stürmer sagt: „BA.5 kann nach wie vor zu schwersten Verläufen bis hin zur Todesfolge führen.“ Besonders Ungeimpfte seien gefährdet.
Dass sich zunehmend Geimpfte anstecken, hängt mit der Weiterentwicklung des Virus zusammen, die ihm die sogenannte Immunflucht ermöglicht: Antikörper sind dadurch nicht mehr so gut in der Lage, die neuen Varianten auszuschalten.
Dennoch schützten die Impfstoffe nach wie vor wirksam gegen schwere Verläufe, betont Stürmer. Eine sogenannte sterile Immunität – also dass sich niemand mehr anstecken kann, der geimpft ist – habe der Impfstoff nie zum Ziel gehabt, stellt der Virologe klar. „Das ist bei respiratorischen Viren auch sehr schwer zu erreichen“, erklärt der Experte.
Auffällig sei bei der neuen Variante aber auch, dass viele Menschen starke Symptome haben, ohne dass sie deshalb ins Krankenhaus müssen, aber über Wochen arbeitsunfähig seien. Bei einer starken Welle könne dies zu Problemen etwa in der Infrastruktur führen, so Stürmer.
Die Situation auf den Intensivstationen ist derweil weiterhin recht entspannt: Nach den aktuellen Zahlen des Divi-Intensivregisters werden in Baden-Württemberg derzeit 87 Menschen mit Covid-19 auf Intensivstationen behandelt.
Trend zu weniger gefährlichen Varianten
Virologe Hengel gibt sich trotz des aktuellen Anstiegs zuversichtlich, dass der Trend hin zu ungefährlicheren Varianten geht. „Glücklicherweise gibt es Stand heute keinen Hinweis, dass die Infektionsschwere zunimmt“, sagt auch Hengel. Er sieht darin auch eine Chance: „Auf diese Weise können die Infektionen bei Geimpften und Genesenen zu einem begrenzten Aufbau der Immunität beitragen.“
Noch aber sei Vorsicht geboten, mahnen beide. Risikopatienten sollten eine vierte Impfung wahrnehmen, sofern die Boosterimpfung schon länger zurückliege, rät Stürmer. Beide empfehlen, in geschlossenen Räumen wie Supermärkten Maske zu tragen. Darauf beschränken sich derzeit auch die Empfehlungen des Landessozialministeriums.

Stürmer geht noch einen Schritt weiter: Im Herbst müsse eine neue Impfkampagne für die gesamte Bevölkerung gestartet werden, forderte Stürmer: „Wenn wir nicht wieder in einen Herbst und Winter mit hohen Zahlen und restriktiven Maßnahmen schlittern wollen, dann müssen wir wieder impfen“, betont er. Expertenrunden zu dieser Frage hat es in Stuttgart zwar schon gegeben – konkrete Pläne für den Herbst aber liegen nicht vor.