Es ist ein Richterspruch mit weitreichenden Folgen: Wegen eines Urteils des Bundessozialgerichts gilt in Baden-Württemberg seit Mittwoch ein Notfallplan der Kassenärztlichen Vereinigung (KVBW) für den ärztlichen Bereitschaftsdienst. Patientinnen und Patienten müssen sich außerhalb der Sprechzeiten und am Wochenende auf längere Wartezeiten oder weitere Fahrtwege zur nächsten Notfallpraxis einstellen.
Die Maßnahmen sollen demnach für mindestens drei Monate gelten. Welche Folgen hat das Urteil genau? Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Welche Notfallpraxen betrifft das genau?
115 Notfallpraxen in Baden-Württemberg sind betroffen. Geschlossen werden die Praxen in Bad Säckingen, Schopfheim, Geislingen, Schorndorf, Möckmühl, Buchen, Kirrlach und Künzelsau. Zudem kommt es zu Einschränkungen in Villingen-Schwenningen, Singen, Mühlacker, Bietigheim-Bissingen, Rastatt und Herrenberg.
Dort machen die Notfallpraxen unter der Woche gar nicht mehr oder nur noch teilweise auf, sondern konzentrieren sich auf das Wochenende und Feiertage. Nicht betroffen von den Maßnahmen sind die Notdienste der Augenärzte und der HNO-Ärzte. Auch die Kindernotfallpraxen bleiben laut KVBW bestehen, in einigen werden allerdings die Öffnungszeiten reduziert.
Warum werden gerade diese Praxen geschlossen?
Die geschlossenen Notfallpraxen liegen vor allem im ländlichen Raum und in kleineren Städten. Als Grund für die Schließung nannte ein Sprecher der KVBW deren Inanspruchnahme. „Die ist in den großen Städten viel höher als auf dem Land“, sagte er. Zudem habe man Ausweichmöglichkeiten auf nahe gelegene Notfallpraxen berücksichtigt.
Bis wann gelten die Einschränkungen in den Notfallpraxen?
Die „Notbremse“ greife für mindestens drei Monate, schreibt die KVBW auf ihrer Internetseite. Wie die Struktur des Bereitschaftsdienstes künftig aussehen werde, sei noch völlig offen. „Das werden wir erst entscheiden, wenn uns die schriftliche Urteilsbegründung vorliegt und wir alle Details kennen“, teilten die KVBW-Vorstände Karsten Braun und Doris Reinhardt am Dienstag mit.
So trifft das Urteil den Hochrhein: „Notfallversorgung könnte zusammenbrechen“
Am Hochrhein werden in Bad Säckingen und in Schopfheim die Notfallpraxen geschlossen. Mit Fassungslosigkeit reagiert das Klinikum Hochrhein auf das Urteil des Bundessozialgerichts. Die Notaufnahme im Waldshuter Krankenhaus sei bereits jetzt am Anschlag. Nach der Schließung der KV-Notfallpraxis könnte sich die Lage noch zuspitzen, denn es könnten tausende zusätzliche Fälle in Waldshut dazu kommen.
Geschäftsführer Hans-Peter Schlaudt: „Denn ohne dramatisieren zu wollen: Dieses Urteil könnte Sorge dafür tragen, dass die Notfallversorgung am Hochrhein zusammenbricht.“
Der Laufenburger Arzt Olaf Boettcher zeigt die Konsequenzen der Schließung für die Versorgung im Landkreis Waldshut auf und erklärt, wie der Notfallplan aussieht.
Notfallpraxen in Singen und in Konstanz mit reduzierten Öffnungszeiten
Nach dem Gerichtsurteil schränken die Notfallpraxen in Singen und Konstanz ihre Öffnungszeiten stark ein. Das bedeutet: Nach 20 Uhr bleibt in Singen nur das Krankenhaus, in Konstanz hat die Notfallpraxis sogar nur noch an Wochenenden und Feiertagen offen.
Der Gesundheitsverbund Landkreis Konstanz (GLKN) rechnet laut einer Pressemitteilung mit einem Ansturm auf die Notaufnahmen. Wer in die Notaufnahme geht, muss aber mit langen Wartezeiten rechnen. Birgit Kloos, niedergelassene Allgemeinmedizinerin und Ansprechpartnerin für die Notfallpraxis in Singen, wird deutlich: „Das ist eine Katastrophe.“
Das sagt das Schwarzwald-Baar-Klinikum
Auch im Schwarzwald-Baar-Klinikum ist man nicht glücklich über die Entscheidung: „Das Schwarzwald-Baar-Klinikum wurde über das ‚Konzept Notbremse‘ der KV nur in einem Sammelschreiben informiert, Gespräche mit dem Klinikum haben dazu nicht stattgefunden“, so Pressesprecherin Sandra Adams auf Nachfrage am Mittwoch, 25. Oktober. Auch das Klinikum rechnet nun damit, dass die Notaufnahme wieder voller wird.
Warum müssen die Notfallpraxen überhaupt schließen?
Bisher wurde der ärztliche Bereitschaftsdienst in Baden-Württemberg von niedergelassenen Ärzten mit eigener Praxis und von rund 3000 Poolärzten geleistet, die nach Angaben der Kassenärztlichen Vereinigung in Baden-Württemberg etwa 40 Prozent der Dienste in den Notfallpraxen freiwillig übernahmen.
Poolärzte sind nach Angaben der KVBW Ärztinnen und Ärzte, die keine Kassenzulassung haben, also unter anderem Mediziner, die im Krankenhaus arbeiten, die kurz vor der Facharztanerkennung stehen oder die bereits im Ruhestand sind. Wegen eines Gerichtsurteils teilte die KVBW am Dienstag mit, mit „sofortiger Wirkung die Tätigkeit der Poolärztinnen und Poolärzte“ zu beenden. Weil deren Wegfall nicht kompensiert werden könne, kündigte die KVBW die Schließungen und Teilschließungen an.
Was hat das Gericht entschieden?
In dem Fall vor dem Bundessozialgericht in Kassel ging es um einen Zahnarzt, der als Poolarzt von der Kassenzahnärztlichen Vereinigung organisierte Notdienste ableistete. Das Gericht urteilte am Dienstag, dass der Arzt dabei nicht automatisch selbstständig tätig sei, sondern sozialversichert werden müsse.
Weil die Organisation der Bereitschaftsdienste der Allgemeinärzte sehr ähnlich wie die der Zahnärzte sei, sei das Urteil übertragbar, teilte die KVBW mit. „Das bestehende System des ärztlichen Bereitschaftsdienstes in Baden-Württemberg kann daher in der bisherigen Form nicht weitergeführt werden“, hieß es weiter. Bisher habe man davon ausgehen dürfen, dass die Poolärzte nicht abhängig beschäftigt seien. Das gelte nun nicht mehr.
„Wir brauchen jetzt die erforderliche Zeit, um über die zukünftige Einbindung der Poolärzte die notwendigen rechtlichen Grundlagen und Vorkehrungen zu treffen und die Voraussetzungen dafür zu schaffen“, teilte ein Sprecher der KVBW mit.
Was ist der Unterschied zwischen Notarzt und Rettungsdienst, Notaufnahme und Notfallpraxis?
Notärzte und der Rettungsdienst sind für wirklich dringende Notfälle zuständig. Dabei geht es laut Landesrettungsdienstgesetz um Kranke oder Verletzte, die sich in Lebensgefahr befinden oder bei denen schwere gesundheitliche Schäden zu befürchten sind. Den Rettungsdienst oder den Notarzt erreicht man über die Notrufnummer 112.
Die Patienten bringt der Rettungsdienst normalerweise in die Notaufnahme eines Krankenhauses, wo diese dann weiterbehandelt werden. Auch Notaufnahmen sind nur für Notfälle vorgesehen. Dort werden etwa keine Krankmeldungen ausgestellt. Der ärztliche Bereitschaftsdienst hilft dagegen weiter, wenn der Hausarzt nicht geöffnet hat, etwa am Wochenende, an Feiertagen oder abends.
Erreichbar ist der Dienst unter der Nummer 116117. Dort erfahren Patientinnen und Patienten, wo die nächste Notfallpraxis ist, bei Bedarf kommt auch ein Arzt oder eine Ärztin nach Hause. In Baden-Württemberg sind die zentralen Notfallpraxen häufig an Krankenhäuser angegliedert.
Was ist mit den Zahnärzten?
Auch wenn vor dem Bundessozialgericht der Fall eines Zahnarztes aus Baden-Württemberg verhandelt wurde, bleibt der Notdienst der Zahnärzte in Baden-Württemberg erstmal unangetastet. Für die Patientinnen und Patienten werde sich kurzfristig nichts ändern, teilte ein Sprecher der Kassenzahnärztlichen Vereinigung mit. Der Notdienst werde weit überwiegend in den Praxen der niedergelassenen Zahnärzte geleistet, Notdienstzentren wie bei den Allgemeinärzten gebe es nur in Heidelberg, Mannheim und Stuttgart. (dpa/sk)