Es gibt Menschen, die sind aus der Zeit gefallen und deshalb zeitlos. Wolfgang Kubicki zum Beispiel, jedenfalls würde er das von sich selbst behaupten. Dieser Mann, 70, ein Alphatier und Frauenheld, liberaler Geist und Nordlicht, der Ewige der FDP. Dieser Mann bewegt sich am Schmotzigen Dunschtig so selbstverständlich zwischen Narren durch Stockach, als hätte er den Plenarsaal noch nie von innen gesehen.

25 Männer, eine Frau

Auftritt Kubicki im Stockacher Bürgerhaus also, in der Adler Post. Empfangen wird er von Narren im Dreispitz, im Hintergrund bläst die Kapelle. Rund 25 Männer warten auf der Bühne, dazwischen eine Frau. Kubicki im dunklen Anzug, dazu Drei-Tage-Bart, sagt selbstsicher: „Ich fühle mich fast wie zuhause.“

Dabei sollte ihm eher mulmig zumute sein. An diesem Tag ist er Beklagter vor dem Hohen Grobgünstigen Narrengericht zu Stocken. Ausgerechnet in einem Jahr, in dem die Narren nach der Corona-Pause völlig ausgemergelt sind. Und der Richter entsprechend spitzzüngig.

Blick ins gut gefüllte Bürgerhaus in Stockach.
Blick ins gut gefüllte Bürgerhaus in Stockach. | Bild: Dominique Hahn

Zurückzuführen ist das wahrscheinlich auf den Weinkeller der Stockacher, der über die mehrjährige Abstinenz vorstellbar leer ist, „richtig trockengelegt“, wie Jürgen Koterzyna noch vor jenem Höhepunkt südbadischer Fasnacht erklärte. Der Schluss liegt daher nahe, dass Kubicki am Abend tief in den Eimer greifen könnte.

Narrenrichter Koterzyna will das so nicht bestätigen. Die Frage, ob und wie viel der FDP-Politiker liefern müsse, sei keine Frage von Durst, sagte er im Gespräch mit dieser Zeitung, es sei eine Frage von Sympathie. Und sympathisch? Das sei Kubicki. Mit einem Freispruch rechnet dennoch niemand.

Das Spiel beginnt gleich morgens

Im Bürgerhaus atmet Kubicki erst einmal tief durch. Man würde ihm gerne einen Kaffee reichen, so müde scheint die Partie um die Augen. Ist es vielleicht gerade ein bisschen viel? Gerade wird er wieder jeden zweiten Tag von einem anderen Medium interviewt.

Der Abend zuvor war feuchtfröhlich. Ein Stammtisch. Das viele Reden, die lange Anfahrt zuvor, das kann anstrengend sein, schmeichelt aber dem Ego. Kubicki strafft sich, bleibt aufmerksam und bereitet sich auf das Spiel vor. Den Schlagabtausch. Der beginnt gleich morgens.

Denn wie das Narrengericht erfuhr, habe sich der Bundestagsvize erst beim CDU-Abgeordneten Andreas Jung erkundigen müssen, wo denn dieses Stockach überhaupt liege. Kubicki gesteht, charmant, wie er es eben tut, wenn er bei einem Fauxpas erwischt wird: „Sie wissen, wir Politiker müssen die Wahrheit sagen.“

Das Publikum lacht und vergibt ihm, dass er in zivil erschien. Damit der Beklagte diesen Ort nicht wieder vergisst, zimmert ihm Jürgen Koterzyna eine Eselsbrücke zusammen: „Stockach ist da, wo der Bodensee ist. Und der Bodensee dort, wo der Wein so viel kostet wie auf Sylt, wobei die Gläser da kleiner sind.“ Spöttisches Wolfgang-Kubicki-Lächeln. Die Narren toben.

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Dieser Mann ist vieles. Vor allem ist er so etwas wie der Prototyp des weißen, alten Mannes. Ein bisschen verkrustet, ein bisschen überlegen, politisch nicht ganz korrekt, einer, der seine Privilegien verdrängt, den gesellschaftlichen Wandel belächelt und glaubt, seine Position aus eigener Kraft erreicht zu haben.

Der Narrenbaum wird vor dem Stockacher Rathaus gestellt. Das gelingt der althistorischen Zimmerer-Gilde mit Muskelkraft und Knowhow.
Der Narrenbaum wird vor dem Stockacher Rathaus gestellt. Das gelingt der althistorischen Zimmerer-Gilde mit Muskelkraft und Knowhow. | Bild: Dominique Hahn

Dazu steht Kubicki, größtenteils. Er gibt sich als Dandy und kleidet sich so. Dabei mag er keine Maßanzüge, keine überteuerten Uhren, keine Schuhe aus Budapest – Statussymbole sind nichts für den FDP-Mann.

Ein gutes Glas Wein dagegen, das verschmäht der FDP-Politiker nicht. Was den Bodensee angeht, muss Wolfgang Kubicki vor den Männern im Dreispitz tatsächlich zugeben, dass der örtliche Tropfen Spitzenliga sei. Er kennt sich aus – in den 80ern hatte er selbst eine Kneipe.

„Ich hätte als Karl Lauterbach kommen können, das hätte aber niemand verstanden.“
Wolfgang Kubicki

Er sagt: „Wir Männer aus dem Norden können auch ohne Alkohol fröhlich sein.“ Heute wolle er aber auf Nummer sicher gehen. Seine Frau habe ihm geraten, sich nicht zu verkleiden, in Berlin würde ohnehin jede Verkleidung als kulturelle Aneignung verstanden. „Ich hätte als Karl Lauterbach kommen können, das hätte aber niemand verstanden.“

Sich nur verteidigen, das ist nicht sein Stil, Kubicki will angreifen. Einschüchtern kann er die Narren damit nicht. Koterzyna gluckst, „so lange er nicht flüchtet, ist uns das egal.“

Die Wahl hängt nicht vom Parteibuch ab

Kubicki ist ein großer Name in der Politik, aber nicht der erste in Stockach. Vor ihm mussten sich bereits Angela Merkel, Wolfgang Schäuble, Andrea Nahles, Joschka Fischer oder Annette Schavan dem Tribunal stellen.

Jetzt also er. Nicht weil man wieder mal einen Liberalen in den Süden locken wollte, Koterzyna betont das: „Wir wählen nicht nach Parteibuch.“ Wer kommt, das hänge von den Sprüchen ab, die der Beklagte von sich gibt, von seiner Resonanz, und davon, welche Stimmung er entwickeln kann.

Der FDP-Politiker kann das. Er weiß, wie man sich auf Bühnen gibt. Er kennt es aus dem Bundestag, er kennt es aus dem Gerichtssaal. Kubicki ist Strafverteidiger, als Anwalt ist er vermögend geworden, die Politik ist für ihn eher Zugabe. Er ist immer laut, er hat immer etwas zu sagen, zu kritisieren, anzumerken. Doch immer wieder spielt er auch mit den Grenzen des Sagbaren. Ein Verhalten, das ihn nach Stockach erst katapultiert hat.

Wolfgang Kubicki (Mitte) wird im Bürgerhaus Adler Post von den Stockacher Narren in Empfang genommen. Links: Narrenbüttel Matthias ...
Wolfgang Kubicki (Mitte) wird im Bürgerhaus Adler Post von den Stockacher Narren in Empfang genommen. Links: Narrenbüttel Matthias Stolp, rechts: Fürsprech Michael Nadig. | Bild: Dominique Hahn

Den türkischen Präsidenten etwa bezeichnete er als „Kanalratte“, zu Karl Lauterbach würde man in seiner Eckkneipe „Spacken“ oder „Dumpfbacke“ sagen, erklärte er. Zurückhaltend? Ist Kubicki nicht – findet auch das Narrengericht.

„Er ist ein Vorbild an Aufgeschlossenheit gegenüber Vertretern anderer politischer Meinungen und ein Freund unangepasster, gar grenzwertiger Rhetorik“, heißt es in der Anklage. Kubicki – einer, der vom „aalglatten Politiker-Klischee“ abhebt, der „ganz schön was auf dem Kerbholz“ hat. Auch, wenn es um Frauen geht.

Kubicki und die Frauen

Der Liberale, 70, ist zum dritten Mal verheiratet. Er sagt Dinge wie: „Ich habe einen Hang zu Frauen.“ Und: „Ich flirte gerne.“ Die feine englische Art eigentlich. Und dann auch wieder nicht. „Ich würde in Berlin zum Trinker werden, vielleicht auch zum Hurenbock“, sagte er einst. Es gebe in der Hauptstadt nämlich „einen enormen Frauenüberschuss“.

Jetzt ist er in Berlin, im Bundestag, als stellvertretender Präsident. Die Anklage des Narrengerichts sei deshalb auch ein nachträgliches Geburtstagsgeschenk zum 80. Geburtstag an Alice Schwarzer, schreibt Jürgen Koterzyna. Keine Beleidigung, meint Kubicki. Auch nicht für Alice Schwarzer.

Der alte weiße Mann kommt gut an

Fragt man die Stockacher, kommt dieser Kerl gut an. „Der ist einer von der alten Sorte“, sagt eine Mutter mit Kinderwagen. „Ein richtiger Gentleman“, meint eine andere. „Der hält Frauen noch die Türe auf und rückt ihnen den Stuhl beim Essen an den Tisch.“ Davon könne sich zumindest ihr Partner gerne etwas abschneiden. „Das sind Manieren“, sagt die Frau, Mittfünfzigerin.

Die Narren sehen das naturgemäß etwas anders, sie werfen Kubicki sogar Sexismus vor. Deftig, wie der Beklagte findet, er hält sich selbst für unschuldig.

So läuft er auch durch Stockach. Erhobenen Hauptes, vom Bürgerhaus durch die Innenstadt, dann eine Einkehr im Wirtshaus Goldener Ochse, Weißweinschorle, zurück zur Adler Post, wo dann der Narrenbaum aufgestellt wird. Kubicki gefällt‘s, er schlägt sich tapfer. Auch weil er das Rampenlicht genießt. Dabei sollte das eigentlich weniger werden.

„Sonst wäre das Politikgeschäft ein bisschen öder“

Wenn man sich recht erinnert, an die Zeiten vor der Landtagswahl 2012 in Schleswig-Holstein, dann hat Wolfgang Kubicki seiner Ehefrau damals eine Zusage gemacht. Er wolle sich künftig mehr Zeit nehmen für das Privatleben. Für gemeinsame Reisen. Mehr Freizeit. Schöne gemeinsame Zeiten sollten kommen nach der erfolgreichen Bundestagswahl.

Der Narrenbaum wird vor dem Stockacher Rathaus gestellt. Das gelingt der althistorischen Zimmerer-Gilde mit Muskelkraft und Knowhow.
Der Narrenbaum wird vor dem Stockacher Rathaus gestellt. Das gelingt der althistorischen Zimmerer-Gilde mit Muskelkraft und Knowhow. | Bild: Dominique Hahn

Frau Kubicki, Annette Marberth-Kubicki, selbst eine erfolgreiche Anwältin, hat ihre Pläne nicht geändert. Ihr Mann irgendwie schon, so oft ist er in den vergangenen Wochen und Monaten Gast in Talk-Shows geworden.

Wobei man strafmildernd berücksichtigen muss, dass das politische Leben ohne ihn wohl ein anderes wäre. „Zum Glück haben wir ihn noch“, sagt Juliane Seibert, Stockacherin und leidenschaftliche Närrin. „Sonst wäre das Politikgeschäft ein bisschen öder.“

Kubicki lässt eine neue Maßeinheit zurück: den Kubicki-Eimer

Vor dem Narrengericht bringt ihm das natürlich nichts. Wobei das Urteil am Ende deutlich milder ausfällt, als gedacht. Kubicki muss wegen „politischer Gefährdung“ im Westentlichen für einen Eimer Wein aufkommen. Allerdings bemisst dieser nicht 60 Liter wie üblich, sondern 180 Liter, „weil Kubicki in drei Mal so großen Dimensionen“ denkt.

Was vom Liberalen in Stockach also bleibt, ist vor allem eine neue Maßeinheit – der Kubicki-Eimer. Dazu kommt eine Ordnungsstrafe von 30 Litern Wein, ein Vesper mit Austern und Champagner, plus Sozialstunden, die der Politiker beim Damenkaffee der Altstockacherinnen ableisten muss, als Eintänzer. Vom Seximus wurde er übrigens freigesprochen.